Manchmal weiß auch der Facharzt des Vertrauens bei einer Krankheit nicht weiter. Dann kann es sinnvoll sein ein Zentrum für Seltene Erkrankungen zu kontaktieren. Interview mit Prof. Dr. Jürgen Schäfer alias Dr. House.
Die US-amerikanische Serie „Dr. House“ kennen viele. Hier sucht der eigenwillige Arzt Dr. Gregory House nach der richtigen Diagnose bei meist lebensgefährlich erkrankten Patienten. Am Ende ist er oft erfolgreich, die Krankheit wurde von seinen Kollegen nicht identifiziert, weil es sich um eine sogenannte, seltene Erkrankung handelte.
Der Arzt Prof. Dr. Jürgen Schäfer von der Uniklinik Marburg machte sich die Popularität von Dr. House zunutze, um auf seltene Erkrankungen aufmerksam zu machen. Seine Vorlesungsreihe „Dr. House revisted – oder: Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt?“, wurde erst von Medizinstudenten und dann von der medialen Öffentlichkeit begeistert aufgenommen. Heute ist er bundesweit ein gefragter Fachmann für Seltene Erkrankungen. Auch dank seines Engagements gibt es inzwischen 31 Zentren für seltene Erkrankungen in ganz Deutschland.
Klinik Kompass: Seltene Krankheiten definieren sich dadurch, dass sie bei 2.000 Menschen nur 1 Mal vorkommen, also selten sind. Wie viele seltene Erkrankungen gibt es denn?
Prof. Dr. Jürgen Schäfer: Es gibt etwa 8.000 verschiedene „seltene Erkrankungen“, daher ist die Gesamtzahl der Menschen, die an einer seltenen Erkrankung leiden, recht groß. Man geht alleine in Deutschland von etwa 4 Millionen Menschen aus, die an einer seltenen Erkrankung leiden. Das sind immerhin knapp 5% unserer Bevölkerung!
Was machen Sie besser bei der Diagnose seltener Krankheiten als andere Ärzte?
Prof. Dr. Jürgen Schäfer: Nichts, wirklich nichts. Wir sind auch nur ganz normale Ärzte und sind wirklich nicht besser als andere. Wenn wir den einen oder anderen Fall gelöst bekommen, der andernorts nicht zu lösen war, dann nur deswegen, weil wir regelmäßige interdisziplinäre Teambesprechungen mit extrem engagierter Mitarbeitern haben, die sich in die Fälle regelrecht reinbeißen. Zudem haben wir als Universitätsklinik einfach unglaublich viele technische Möglichkeiten, sowohl im Laborbereich als auch im Bereich moderner IT Systeme, die wir auch intensiv nutzen.
Wie genau nutzen Sie die IT-Technik bei Ihrer täglichen Arbeit?
Prof. Dr. Jürgen Schäfer: Für uns ist die Nutzung moderner Software Systeme extrem wichtig. Wie gesagt, wir sind nicht besser als andere Ärzte und keiner von uns ist „Dr. House“. Aber durch moderne Unterstützungssysteme haben wir das medizinische Wissen der Welt quasi direkt griffbereit. Dies ist ein Schatz, den viele Kollegen und Kolleginnen im Moment noch gar nicht adäquat nutzen und der kurzfristig die Medizin ändern wird.
Welche Facharztbereiche sind am Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen vertreten? Aus welchem medizinischen Bereich kommen die meisten Patientenanfragen?
Prof. Dr. Jürgen Schäfer: Letztendlich haben wir nahezu alle Schwerpunkte der inneren Medizin von der Onkologie bis zur Nephrologie vertreten sowie die Bereiche Neurologie, Psychosomatik, Allgemeinmedizin und Labormedizin. Da wir uns derzeit auf die Erwachsenenmedizin konzentrieren, fehlt uns im Moment noch die Pädiatrie. Bei speziellen Fragestellungen bitten wir Kollegen aus den jeweiligen Schwerpunkten, wie Dermatologie, HNO oder Augenklinik mit dazu. Sehr viele Patienten melden sich mit neurologischen Problemen, viele aber auch mit Schmerzen oder gastrointestinalen Problemen. Da es sich bei uns häufig um Langzeitverläufe mit zum Teil starker psychischer Belastung handelt, spielt die Psychosomatikerin in unserem Team eine ganz wichtige Rolle und wird frühzeitig mit eingebunden.
Sie raten Patienten davon ab im Zentrum für unerkannte Krankheiten vorstellig zu werden. Vor einer Behandlung sollen zunächst alle bisherigen Befunde zugesandt werden, damit Sie diese intensiv mit Kollegen diskutieren können. Das klingt nach einer sehr arbeitsintensiven Patientenbetreuung. Wie viele Patienten können Sie ungefähr im Jahr behandeln?
Prof. Dr. Jürgen Schäfer: Letztendlich schaffen wir die große Flut von Anfragen und Hilfeersuchen als kleines Zentrum alleine nicht und bekommen auch nur einen Bruchteil der mehr als 6.000 Anfragen abgearbeitet. Hier sind die heimatnahen Versorger gefordert, die oftmals auch exzellente Zentren vorhalten, so dass es nicht notwendig ist, quer durch die Republik nach Marburg zu fahren. Aber für uns – wie für die anderen Zentren gleichermaßen – ist nicht nur die große Zahl von Anfragen eine Herausforderung, auch die Komplexität der einzelnen Fälle macht eine sehr gewissenhafte und zeitaufwändige Aufarbeitung notwendig. So konnten wir vor kurzem nur deswegen den – sehr seltenen – Fall einer Hypophosphatasie lösen, weil die Kollegin in einem Berg von Arztbriefen einen einmalig bestimmten Wert einer sehr niedrigen alkalischen Phosphatase herausgefischt hat. Beim raschen Querlesen ging dieser Befund bei den vorherigen Kollegen verloren. Das macht aber auch klar, dass für uns das wichtigste – und zugleich knappste – Zeit ist.
Was war die härteste Nuss bislang, die Sie zusammen mit Ihren Kollegen geknackt haben?
Prof. Dr. Jürgen Schäfer: Oh je, das ist schwer zu sagen. Interessant ist, dass im Nachhinein immer alles so einfach aussieht, auch wenn man sich zuvor wirklich die Zähne ausgebissen hat. Sei es eine bislang noch nie beschriebene Mutation an einem Kaliumkanal, die zu intermittierenden Lähmungen führt, eine Bilharziose aus dem Aquarium, was bislang so noch nie beschrieben wurde, im Zeitalter von Internetbestellungen aber möglich wird oder die nicht erkannte Nebenwirkung einer hormonfreisetzenden Spirale zur Kontrazeption, die zu schweren Depressionen und Kopfschmerzen und jahrelanger Krankschreibung führte, – alles Fälle, die uns einiges an Kopfzerbrechen bereitet haben und im Nachhinein so logisch und einfach erscheinen. Jedenfalls wird uns nie langweilig und es stimmt einfach: Medizin ist manchmal spannender als ein Krimi.
Herr Prof. Dr. Schäfer, vielen Dank für Ihre Antworten!
Prof. Dr. Jürgen Schäfer leitet das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Marburg. Er ist gelernter Internist und wurde 2005 auf die bundesweit erste Professur für Präventive Kardiologie in Marburg berufen.