Vor viereinhalb Jahren bekam die schwangere Katrin Ruby die Schreckensnachricht: Das Kind, das in ihrem Bauch heranwächst, leidet an Spina bifida. Sie besucht die Neurochirurgin Dr. Heidrun Bächli in Heidelberg, die den Fötus im Bauch mit einer in Europa neuartigen Methode operiert. Wie geht es Kind und Mutter heute?
Alle werdenden Eltern wünschen sich nur eines: Das Kind soll gesund zur Welt kommen. Bei Katrin Ruby wurde dieser Wunsch leider nicht erfüllt. Als ihr der Kinderarzt im Jahr 2016 die Diagnose des in ihr heranwachsenden Baby mitteilte, war sie erst geschockt und dann ratlos: Spina Bifida Aperta. Davon hatte sie noch nicht gehört.
Sie ist Naturwissenschaftlerin, ebenso wie ihr Mann. Beide arbeiten als Lehrer an einer Schule in Mecklenburg-Vorpommern. Sie informieren sich im Netz über die Erkrankung. Lernen, dass es in Deutschland vielen Müttern so geht wie ihr.
Spina Bifida tritt durchschnittlich bei einem von 1.000 Kindern auf. Dabei unterscheidet man zwei Formen: Spina Bifida Aperta (offener Rücken) und Spina Bifida Occulta (geschlossener Rücken). Letztere Form verläuft ohne Symptome, weil weder die Rückenmarkshäute, noch das Rückenmark beteiligt sind. Nur der Wirbelbogen ist gespalten, was nach der Geburt manchmal zufällig bei Röntgenuntersuchungen auffällt. Oft bleibt diese Spina Bifida-Form aber auch unentdeckt.
Leider ist der Fötus von Katrin Ruby an der weit schlimmeren Form Spina Bifida Aperta erkrankt. In der Wirbelsäule hat sich ein Spalt gebildet, durch den Teile des Rückenmarks, der Rückenmarkshäute und Nerven in einer Blase nach außen treten. Ihr Sohn könnte Probleme beim Gehen haben, vielleicht sogar querschnittsgelähmt sein, sagt der Kinderarzt. Inkontinenz und ein Hydrocephalus, ein sogenannter Wasserkopf, sind außerdem Folgen des Fehlwachstums.
Patienten mit Spina Bifida Aperta und Spina Bifida Occulta in deutschen Krankenhäusern
Katrin Ruby ist vor der Geburt 30 Jahre alt. Sie hat in der Schwangerschaft Folsäure genommen, daran kann es nicht liegen. Ein Folsäuremangel erhöht die Gefahr einer Erkrankung. Sie weiß nicht, warum es gerade sie getroffen hat. Die Ursache für Spina Bifida ist wenig erforscht. Man geht davon aus, dass Veranlagung und Umweltfaktoren zusammenwirken. Neun von zehn Müttern entscheiden sich bei der Diagnose Spina Bifida Aperta für eine Abtreibung.
Katrin Ruby und ihr Mann Sebastian entscheiden sich gegen eine Abtreibung und beginnen, sich im Netz zu informieren. Sie lesen von der Möglichkeit einer vorgeburtlichen Operation. Dabei wird das Baby im Bauch der schwangeren Frau operiert. Die Schwester von Katrin Ruby macht sie auf die Moms-Studie aufmerksam, die von 2003 bis 2011 an drei US-amerikanischen Krankenhäusern durchgeführt wurde. In dieser Studie wurden Schwangere mit einem an Spina Bifida Aperta erkrankten Fötus in zwei Gruppen unterteilt. Frauen der einen Gruppe wurden noch in der Schwangerschaft offen operiert. Bei Frauen der anderen Gruppe wurde der Spalt in der Wirbelsäule erst nach der Geburt geschlossen. Die Forscher untersuchten die Kinder zu zwei Zeitpunkten, nach 12 Monaten und nach 30 Monaten.
Die Vorteile der vorgeburtlichen Operation waren so eindeutig, dass die Studie vorzeitig abgebrochen wurde. Säuglinge, die im Mutterbauch operiert wurden, konnten später häufiger frei gehen (42 Prozent, bei nachgeburtlichen Operationen waren es 21 Prozent), bildeten seltener einen Wasserkopf aus (40 Prozent vs. 82 Prozent) und litten seltener an einer Chiari-Malformationen II, die Sprechstörungen, Kopfschmerzen und andere neurologische Beschwerden verursacht (4 Prozent vs. 36 Prozent). Allerdings stieg mit der OP die Frühgeburtenrate (79 Prozent, bei nachgeburtlichen Operationen waren es 15 Prozent). Außerdem kam es häufiger zu Verletzungen der Mutter, wie zum Beispiel zu einer Schädigung des Uterus (46 Prozent vs. 8 Prozent).
Kinder mit vorgeburtlicher OP haben später geringere Beschwerden
Katrin Ruby überzeugen die Ergebnisse der Studie. Sie macht sich auf die Suche nach einem Klinikum, wo vorgeburtlich operiert wird und findet die Uniklinik Heidelberg. Privatdozentin Dr. Heidrun Bächli ist damals deutschlandweit die einzige Ärztin, die nach US-amerikanischen Vorbild eine offene, vorgeburtliche OP bei Spina Bifida anbietet. Dass Bächli die OP noch nie durchgeführt hat, wissen die Rubys nicht, als sie sich ins Auto setzen und quer durch Deutschland fahren. Die Zeit drängt. Nach der 26. Schwangerschaftswoche ist keine Operation mehr möglich.
„Katrin Ruby war sehr gut über die neue OP-Methode informiert“, erinnert sich die ausgebildete Neurochirurgin Bächli, die heute an der Uni Köln arbeitet. Bächli hat sich lange auf ihre erste OP vorbereitet. War mit dem Team im Jahr 2015 in den USA, um das St. Louis Fetal Care Institute zu besuchen und sich die Operation live anzusehen. Danach hat sie fast ein Jahr lang immer wieder mit Pränatalmedizinern, Gynäkologen, Neonatologen, Anästhesisten und anderen Kinderneurochirurgen zusammengesessen, um den Eingriff im Mutterbauch zu besprechen.
Vor der Operation im Frühjahr 2016 werden zur Sicherheit US-amerikanische Kollegen eingeflogen, die Erfahrung und Wissen mitbringen, und bei der OP hospitieren.
Für den Eingriff öffnen die Gynäkologen die Gebärmutter mit einem acht Zentimeter langen Schnitt. Der Fötus wird vorsichtig gedreht, so dass der offene Rücken frei zugänglich ist, und erhält eine separate Narkose. Dann verschließt Bächli Rückenmark, Hirnhaut und Haut Schicht für Schicht. Nach vier Stunden ist die Operation vorbei. „Es ist alles sehr gut und komplikationslos verlaufen“, erinnert sich Bächli heute.
Katrin Ruby weiß noch, wie sie am Abend nach der OP bei der Ultraschall-Untersuchung aufgeregt auf den Bildschirm schaut. Und wie erleichtert sie ist, dass sich die Beine ihres Sohnes bewegen, weil die Narkose in dem kleinen Körper bereits nicht mehr wirkt.
Thomale: „Ich halte es für eine sinnvolle Alternative“
„Spina Bifida gehört zu den schwerwiegendsten Fehlbildungen bei Kindern, welche mit dem Leben vereinbar ist“, sagt Prof. Dr. Ulrich-Wilhelm Thomale, Leiter der Pädiatrischen Neurochirurgie der Charité. Es gebe zahlreiche Symptome, die das Kind lebenslang begleiten, wie Blasen- und Stuhlgangentleerungsstörungen, eine Querschnittslähmung oder ein Aufstau des Nervenwassers im Kopf, das mittels eines Shunts abgeleitet werden muss. Aber auch er hält die vorgeburtliche, offene Operation bei Spina Bifida für eine gute Option. „Ich halte es für eine sinnvolle Alternative. Es gibt, dank der MOMS-Studie, solide Daten für die offene Operationstechnik. Allerdings geht auch die Mutter ein Risiko ein.“
Heidrun Bächli hat seit der ersten OP von Katrin Ruby 13 weitere Frauen operiert. Jetzt will sie an der Uniklinik Köln ein Team aufbauen. Während sie seit vier Jahren die offene OP-Methode anwendet, gibt es ein weiteres Verfahren, das in Deutschland angeboten wird.
Prof. Dr. Dr. Thomas Kohl, Leiter des Deutschen Zentrums für Fetalchirurgie & minimal-invasive Therapie (DZFT) der Universitätsmedizin Mannheim operiert schon seit 18 Jahren schwangere Frauen, die ein an Spina Bifida erkranktes Baby in sich tragen. Allerdings nicht mit der offenen OP-Methode aus den USA, sondern mit einer selbst entwickelten Schlüsselloch-Technik.
Bei seiner OP-Methode werden drei kleine Kunststoffröhrchen mit einem Außendurchmesser von 4 mm in die Fruchtblase der Schwangeren eingeführt. Durch dieses Röhrchen schiebt der heute 58-jährige Fetalchirurg eine Optik sowie verschiedene Instrumente in die Fruchthöhle, mit denen das freiliegende Rückenmark des Kindes freipräpariert und dann mit einem Patch wasserdicht abgedeckt wird. „Das Operationstrauma für die Schwangere ist bei minimal-invasivem Vorgehen unvergleichlich geringer, als das bei offener Fetalchirurgie“, erklärt Kohl. „Schließlich erfordert die Operation nur drei bis vier Einstiche an Bauch und Gebärmutter mit Nadeln von einem Durchmesser von nur 1,2 mm“.
Offene Methode vs. minimalinvasive Methode
In den ersten Jahren war seine technisch sehr anspruchsvolle Methodik umstritten. In einem Spiegel-Artikel wurde er als ein Arzt dargestellt, der die wissenschaftliche Forschung über das heranwachsende Leben stellt. Auch weil drei der ersten 19 Föten zu Beginn starben. Inzwischen hat sich seine minimalinvasive OP-Methode etabliert. Kohl hat Ehrenprofessuren von Universitäten in Istanbul und Shenjing für seine Verdienste in der Fetalchirurgie erhalten. „Bei den letzten 210 Operationen ist kein einziges Kind mehr verstorben und die neurologischen Ergebnisse für die Kinder sind denen der offenen Chirurgie vergleichbar“, sagt Kohl.
Letzteres hat er jüngst in einer Nachuntersuchung bewiesen: 72 Frauen und Kinder hat Kohl zwischen Oktober 2010 und August 2014 operiert, davon nahmen 52 Kinder an der retrospektiven Studie teil. „Man weiß nicht, ob die erste Serie genauso gut aussieht, wie die in der Untersuchung dargestellte“, sagt Prof. Thomale von der Charité, „die aktuellen Ergebnisse sind zudem nicht im Rahmen einer prospektiv kontrollierten Studie erhoben und die Mortalität liegt etwas höher, jedoch kommen die neurologischen Ergebnisse durchaus an die MOMS-Studie heran.“
Allerdings sei die Nachversorgung von Kohls Patienten zumindest in der Anfangsphase unvollständig gewesen: „Die weitere Verlaufsbetreuung der Kinder in Bezug auf einen Wasserkopf und eine mögliche Verwachsungen des Rückenmarks bleibt unabdingbar“, sagt Thomale. Für Kohl spräche seine Erfahrung und der schonende Eingriff bei der Operation durch kleine Schnitte.
Ob nun minimalinvasive oder offene OP, grundsätzlich sind sich Bächli, Thomale und Kohl einig: Die Vorgeburts-OP verringert nachweislich die Beschwerden des Kindes und ist der nachgeburtlichen Operation deswegen vorzuziehen.
Eine Garantie, dass das Kind gesund wird, ist sie aber nicht. Denn inwiefern Spina Bifida das Leben des späteren Kindes einschränkt, ist individuell unterschiedlich. Manchmal setzen die Beschwerden gar nicht in der frühen Kindheit, sondern erst im Erwachsenenalter ein. Einige Betroffene können sich normal bewegen, wieder andere sitzen ein Leben lang im Rollstuhl. Je höher die Fehlbildung in der Wirbelsäule auftritt und je mehr Nerven beeinträchtigt sind, desto schwerwiegender ist die Erkrankung.
Familie Ruby
Der Sohn von Katrin Ruby ist inzwischen vier Jahre alt. An seinem Geburtstag im August konnte er noch nicht laufen, aber krabbelt seinen Freunden bei der Geburtstagsparty fröhlich hinterher. Eine Hüft-OP steht bald an, weil die Hüftpfannen nicht ausgebildet sind. Die Klumpfüße wurden nach der Geburt operiert. Der Darm und die Blase entleeren sich selbstständig, so dass er als Vierjähriger noch mit Windeln herumlaufen muss.
Einen Wasserkopf hat er aber nicht, er konnte dank der vorgeburtlichen Operation verhindert werden. Auch neurologisch ist alles in Ordnung. Er ist ein neugieriger und redseliger vierjähriger Junge. Ob ihr Sohn später selbstständig laufen wird und sich die Inkontinenz verwächst, weiß Katrin Ruby nicht.
Die Sorgen um ihren Sohn sind mit den Jahren kleiner geworden. Man habe sich an die Einschränkungen gewöhnt. Außerdem ist das Jahr 2020 für die Familie ein besonderes Jahr, nicht wegen Covid-19, sondern weil sich Familienzuwachs ankündigt. Sie habe manchmal „Kopfkino“ sagt Katrin Ruby. Aber bislang zeigen alle Voruntersuchungen, dass ihre Tochter gesund wird.
Dr. Bächli hat sie in den letzten Jahren immer wieder Bilder ihres Sohnes geschickt und sie wegen der Nachsorge in Heidelberg besucht. Würde sie heute etwas anders machen? Nein. Nachdem sie sich gegen eine Abtreibung entschieden hat, sei die vorgeburtliche Operation der nächste logische Schritt gewesen. Ihr Sohn ist nicht gesund, aber seine Beschwerden fallen dank der OP geringer aus.