Woran liegt es, dass sich der kleine Eric mit ADHS einfach nicht besser fühlt, obwohl Dr. Stephanie Boßerhoff alle Therapiemöglichkeiten ausschöpft? Die Antwort ist so einfach wie bestürzend.
Ein Bericht der Neuropädiaterin Dr. Stephanie Boßerhoff, aufgeschrieben von Michael Lohmann
Eric (Name geändert) war fünf, als er in unser Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ) kam, und er war 13, als es uns wie Schuppen von den Augen fiel: Auf einmal verstanden wir, warum unser sonst wirksames Therapieangebot bei ihm so wenig Erfolg gezeigt hatte.
Im Kindergarten war Eric der nicht zu bändigende Zappelphilipp, der die anderen Kinder ständig ärgerte. Der stämmige Junge mit dem blassen Gesicht zeigte die typischen ADHS-Symptome: motorische Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, keine Impulskontrolle. Wenn es Streit gab, dann fast immer mit Eric. »Wenn Ihr Kind im nächsten Jahr in die Schule kommen soll, dann sollten Sie sich ans SPZ wenden«, sagte die Leiterin des Kindergartens zu den Eltern. So kam Frau Tietze mit Eric zu mir zum Erstgespräch.
Frau Tietze erzählt mir, dass Eric zwar ziemlich wibbelig sei, aber schließlich sei er nun mal ein Junge. »Und die anderen Kinder ärgern ihn immer. Dann wehrt er sich halt.«
»Wie erleben Sie Eric zu Hause?«
»Na ja, still sitzen kann er nicht. Er hat halt Hummeln im Hintern – das ist oft sehr anstrengend.«
»Häufig ist gerade das das Problem: ADHS-Kinder merken meist gar nicht, wenn sie andere provozieren«, versuche ich ihr zu erklären. »Und so kriegen sie auch nicht mit, wie der Streit entsteht. Sie haben dann immer das Gefühl: Die anderen Kinder haben doch angefangen! Ich habe mich nur gewehrt!«
»Aber trotzdem wird er gemobbt! Das ist eine Tatsache.«
Während unseres Gesprächs schaut sich Eric in meinem Büro um und untersucht das Spielzeug in der Spielecke. Auf mich wirkt er eher verhuscht, wenn auch permanent in Bewegung. Seine Kleidung vom Discounter verrät, dass zu Hause gerechnet werden muss. Erics Vater ist Lagerarbeiter und Frau Tietze war Kassiererin bei Aldi, bevor die drei Kinder kamen. Da bleibt kein Spielraum für Extras.
»Um genauer zu untersuchen, wie ausgeprägt die ADHS-Symptome bei ihrem Sohn sind und wie überhaupt sein Entwicklungsstand ist, hätten wir die Möglichkeit, Eric und Sie für eine Woche in die Klinik aufzunehmen. Da würden wir verschiedene Untersuchungen und Tests machen und hätten dann eine gute Basis, um Ihrem Sohn zu helfen.«
»Ist es denn wirklich so schlimm, dass er in die Klinik muss?«, fragt Frau Tietze besorgt.
»Nein, von Müssen kann keine Rede sein. Aber der Aufenthalt könnte uns helfen, rasch die richtige Therapie für Eric zu finde und so verlieren wir keine Zeit vor der Schule.«
»Das klingt schon besser!« Frau Tietze verspricht, das mit ihrem Mann zu bereden.
Wenige Tage später teilt sie mir mit, dass auch ihr Mann einverstanden sei.
In der Klinik zeigen nicht nur die Tests, dass bei Eric eine starke ADHS-Symptomatik vorliegt – wir bekommen es auch zu spüren: Der Junge wirbelt durch die Gegend und kann kaum bei der Sache bleiben. Wir sehen, wie schwer es Frau Tietze fällt, ihm klare Grenzen zu setzen. Sie erzählt mir auch von ihren Problemen zu Hause: »Wir wohnen im Haus der Eltern meines Mannes. Die halten mich ohnehin für unfähig, meine Kinder richtig zu erziehen und mischen sich in alles ein. Schlimm ist vor allem Erics Großvater, vor dem haben die Kinder richtig Angst.«
»Schlägt er die Kinder?«
»Nein, das nun nicht. Obwohl er das am liebsten würde.«
»Frau Tietze, Sie wissen, dass Gewalt alles schlimmer macht. Vor allem auch bei ADHS.«
»Da brauchen Sie keine Sorge zu haben, meine Kinder werden nicht geschlagen.«
In der Klinik haben auch unsere Schwestern einen guten Eindruck von Frau Tietze. Sie sind besonders geschult, den Umgang von Mutter und Kind im Auge zu haben. Und natürlich bekommen sie mit, wenn die Mütter hauptsächlich draußen sind, um zu rauchen, sich die ganze Zeit mit ihrem Handy beschäftigen und wenig Interesse für ihre Kinder zeigen. Bei Frau Tietze erleben wir, dass sie wirklich um ihren Sohn bemüht ist.
Wir klären Frau Tietze über das Krankheitsbild auf und geben ihr Erziehungsstrategien an die Hand. Wichtig vor allem: konsequent Grenzen setzen und positiv bestärken. Schließlich tun Kinder das vermehrt, worauf die Aufmerksamkeit gelegt wird. Egal, ob positiv oder negativ. Da ADHS-Kinder für ihre Umgebung so anstrengend sind, bekommen sie vor allem Aufmerksamkeit, wenn sie provozieren oder unruhig sind: »Lass das! Jetzt bleib ruhig sitzen!« Wenn sie sich ruhig verhalten oder sich anstrengen, ihre Konzentration aufrecht zu erhalten, sind die Bezugspersonen meistens so erleichtert, dass sie ihre Aufmerksamkeit lieber woanders hinlenken. Was lernt also das Kind: Mist, jetzt benehme ich mich vernünftig und keinen interessiert das! Also versuchen wir den Eltern beizubringen, die Kinder besonders auch dann zu unterstützen, wenn sie das gewünschte Verhalten zeigen. Die Energie auf das Positive lenken. Das leuchtet auch Frau Tietze ein.
Da auch der IQ-Test von Eric normal ausfällt, steht seiner Einschulung nichts mehr im Wege.
Um Eric zusätzlich zu unterstützen, schlagen wir eine medikamentöse Therapie vor. »Die Medikamente werden ihm helfen, sich besser zu konzentrieren, aber sie ersetzen keine therapeutische Begleitung. Beides ist vor allem zusammen wirksam. Deswegen schlage ich vor, dass wir Eric von hier aus weiter begleiten.«
Frau Tietze ist einverstanden und wir bestimmen einen weiteren Termin, um dann zu besprechen, wie Eric in der Schule zurechtkommt.
Bei den nächsten Terminen zeigt sich, dass Eric der Einstieg in die Schule verhältnismäßig gut gelungen ist. Doch dann häufen sich die Beschwerden der Lehrer: Eric würde sich häufig prügeln und sei kaum zu bändigen.
Ich vereinbare mit Frau Tietze einen Termin für den späten Freitagnachmittag, sodass dieses Mal auch ihr Mann mitkommen kann. Ein untersetzter, stämmiger Mann, dem das Ganze ziemlich lästig zu sein scheint. »Er ist halt ein Junge und richtige Jungs wollen sich auch mal prügeln!«, meint er. Dann erzählt er mir, er sei früher auch so gewesen. »In der Schule bin ich auch schon mal ausgerastet und hab ein paar Stühle umgeschmissen.«
So, wie ich Herrn Tietze hier erlebe, kann ich mir gut vorstellen, dass er selber ADHSler war. Damit haben wir die genetische Komponente vermutlich geklärt, denn ADHS ist zu 80 Prozent genetisch bedingt, wobei die Ausprägungen sehr unterschiedlich sein können.
»Herr Tietze, Sie können sich also im Verhalten Ihres Sohnes gut wiederfinden?«
»Ja klar, ich hatte auch regelmäßig Ärger in der Schule.«
»Aber Sie wollen doch sicher auch, dass Ihr Sohn einen vernünftigen Schulabschluss macht?«
»Ja, schließlich ist er ja auch nicht blöd.«
»Genau! Und deswegen sollten wir uns doch alle zusammen bemühen, dass er den Anforderungen in der Schule gerecht werden kann.«
»Alles klar, und was soll ich da machen?«
Ich erkläre Herrn Tietze, wie wichtig es sei, dass auch er als Vater Zeit mit seinem Sohn verbringe. »Und geben Sie Eric immer wieder Rückmeldung, wenn er etwas gut macht.
Zwei Jahre später zieht Familie Tietze aus dem Haus der Großeltern aus. Frau Tietze ist erleichtert und auch Eric scheint der damit verbundene Schulwechsel gut zu tun. Endlich entspannt sich die Lage. Doch dann wiederholt sich auch hier das alte Schema: Prügeleien, Unverschämtheiten, genervte Lehrer. Die Schule droht mit Rauswurf.
Wir haben noch eine weitere Therapie-Möglichkeit, die ich den Eltern nahelege: »Was ich Ihnen noch anbieten kann, wäre ein achtwöchiger Aufenthalt in unserer Tagesklinik. Eric würde dort einen Erzieher bekommen, der sehr viel Erfahrung im Umgang mit ADHS-Kindern hat. Der würde sich dann nur um ihn und ein weiteres Kind kümmern.«
»Und was soll das bringen?«, fragt Herr Tietze.
»Das ist wie ein Übungsprogramm. Eric könnte dort unter Anleitung trainieren, sich besser zu kontrollieren, damit er nicht wegen jeder Kleinigkeit ausflippt.«
Das Ehepaar Tietze ist einverstanden, und da sich Frau Tietze nach einem Bandscheibenvorfall einer Operation unterziehen muss, kommt Herr Tietze in den folgenden Wochen zu den Gesprächen in die Tagesklinik. Erics Bezugserzieher berichtet mir, dass Herr Tietze gut mitarbeiten würde.
Nach dem Aufenthalt in der Tagesklinik zeigt sich Eric tatsächlich bemüht, das in der Klinik Gelernte auch in der Schule umzusetzen. Und dennoch kommen ein paar Monate später wieder Beschwerden. Mittlerweile ist Eric 12 Jahre alt und schon längst wurde auch das Jugendamt eingeschaltet. Von dort wird eine sozialpädagogische Familienhelferin in die Familie geschickt. »Irgendwie habe ich immer das Gefühl, man kommt an diesen Jungen nicht wirklich ran«, berichtet mir die Familienhelferin. Dieses Gefühl kenne ich. Was ist da los? Warum zeigen alle unsere Maßnahmen so wenig erkennbaren Effekt?
Die Antwort erfahre ich ein halbes Jahr später: Frau Tietze erzählt mir, sie habe sich mittlerweile von ihrem Mann getrennt und sei mit den Kindern ausgezogen.
»Er hat mich und Eric regelmäßig geprügelt. All die Jahre lang. Und ich habe immer gehofft, es würde sich bessern. Vor allem nachdem wir von seinen Eltern weggezogen waren. Aber nichts hat sich gebessert.«
»Wir kennen uns jetzt so lange. Warum haben Sie mir das nie erzählt?«
»Weil ich gehofft habe, dass wir das allein hinkriegen. Und außerdem war mir das peinlich.«
Wie so oft war auch hier die Gewalt das schleichende Gift im Verborgenen. So lange es keine blauen Flecken oder gebrochene Knochen gibt, ist Gewalt nicht sichtbar. Und typischerweise hat auch Eric nie darüber gesprochen. Weder mir, noch den Schwestern in der Klinik, noch seiner Bezugserzieherin in der Tagesklinik gegenüber hat er je die geringsten Andeutungen gemacht. Und auch das ist typisch, denn Kinder wissen zwar, dass es nicht in Ordnung ist, wenn sie von ihren Eltern geprügelt werden, aber sie lieben sie trotzdem. Sie wollen loyal sein.
Die Auswirkungen häuslicher Gewalt sind verheerend, nicht zuletzt bei ADHS. Denn für die Ausprägung dieser Krankheit spielt es eine sehr große Rolle, wie es dem Betreffenden emotional geht. Lebt er in einer liebevollen Umgebung oder in einer von Gewalt geprägten? Tut er etwas, was ihm Spaß macht oder fühlt er sich ständig unter Druck gesetzt? Unsere Erfahrung ist, dass wir jedes ADHS-Kind, das in einer liebevollen häuslichen Umgebung lebt, mit unseren Maßnahmen gut behandeln können. Durch Beratung der Eltern und Lehrer, durch Verhaltenstherapie und Medikamente schaffen wir es, dass die Kinder und Jugendlichen die Schule und den Freizeitbereich, sowie den Umgang in ihrer Peergroup gut bewältigen können. All diese Therapien hatte auch Eric bekommen und doch hörten seine Schwierigkeiten nicht auf.
Es besserte sich deutlich, als die Mutter sich vom Vater trennte. In der Schule konnte er sich besser konzentrieren und es gab keine Prügeleien mehr. Sogar die Medikamente konnten wir nun langsam ausschleichen.
Die Geschichte von Eric hat mir wieder einmal die schrecklichen Folgen häuslicher Gewalt deutlich gemacht. Und sie zeigt eben auch, wie schwierig es oftmals ist, hinter die Kulissen zu schauen. Denn was können wir tun, wenn es keine Anzeichen äußerer Gewaltanwendung gibt und keiner darüber spricht? Und leider gibt es dann noch die Fälle, in denen die Kinder zwar reden, man ihnen aber nicht glaubt.
Auf unserer Station hatten wir drei Brüder zwischen fünf und neun Jahren. Sie waren der Schrecken des ganzen Hauses: Die drei tobten über die Flure, zerstörten Spielsachen und ließen sich von keinem Pfleger, von keiner Schwester etwas sagen. Das war so schlimm, dass die Schwestern nach der Woche sagten: »Liebe Frau Boßerhoff, wenn Sie diese Jungs noch mal einbestellen, dann kündigen wir!« Am Ende der Woche habe ich dann für mein genervtes Personal Kuchen mitgebracht, woraus das geflügelte Wort der »Kuchenwoche« entstand. Wenn es also wieder mal schlimm zuging, war das eine »Kuchenwoche«.
Diese drei Jungen lebten bei ihrer Mutter, der Vater hatte wegen wiederholten Gewalttätigkeiten ein Kontaktverbot. Doch bei uns berichteten die Jungen während der emotionalen Diagnostik, dass der Vater weiter in die Familie käme und sie von ihm geschlagen würden. Wir haben eine Helferkonferenz durchgeführt und mit dem Jugendamt gesprochen. Die dortige Familienhelferin sagte uns: »Das haben diese Jungen mir auch erzählt, aber ich glaube denen nicht.« Wir konnten nichts tun, denn schließlich liegt die Kontrollbefugnis allein beim Jugendamt.
Acht Wochen später hörten wir dann, dass einer der Jungen das Bett seines Bruders angezündet hatte. Dann endlich sah sich auch das Jugendamt zum Handeln veranlasst und nahm diese Kinder aus der Familie. Der Junge musste also zu so drastischen Mitteln greifen! Im Nachhinein ist mir dadurch noch klarer geworden, dass die massiven Verhaltensauffälligkeiten der Jungen auf unserer Station nichts anderes waren als Hilferufe. Unsere Erfahrung bestätigt, dass Kinder, die über jedes Maß hinaus schreien, aggressiv und oppositionell sind, fast immer zu Hause Gewalt erfahren haben – emotional oder körperlich.
In unserer Einrichtung sind wir zunehmend mit Fällen häuslicher Gewalt konfrontiert. Das liegt sicher auch daran, dass die Armut zunimmt. Armut und Kindeswohlgefährdung hängen eng zusammen, denn Armut ist einer der Faktoren, die Gewalt begünstigen. Das Problem ist, dass zwei Drittel der Kinder, die unter solchen Bedingungen groß werden, genau dort wieder landen. Gewalt erzeugt neue Gewalt.
Weil wir in der Klinik Tag für Tag mit diesen Fällen konfrontiert sind, wissen wir, wie schlimm es gerade für Kinder aus solchen prekären Verhältnissen ist, dass Kindergärten und Schulen nun schon seit Wochen wegen Corona geschlossen sind. Uns treibt die Sorge um, dass deshalb die Fälle häuslicher Gewalt noch weiter in die Höhe schnellen.
Sicher bin ich durch diese Erfahrungen dünnhäutiger geworden. Gewalt im Fernsehen kann ich nicht mehr ertragen. Früher war der »Tatort« für mich kein Problem, doch heute kann ich solche Filme nicht mehr anschauen, weil meine Patienten ähnlich Schlimmes erlebt haben. Meinen Kolleginnen geht es ähnlich; wir schauen sonntags lieber Rosamunde Pilcher oder »Wunderschön«.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch: Wenn eine Begegnung alles verändert – Ärztinnen und Ärzte erzählen. Hier schildern Ärztinnen und Ärzte prägende Begegnungen mit Patienten und thematisieren dabei neuartige Behandlungswege. ©atp Verlag, Köln 2021.