Dörte Maack ist 25 Jahre alt, als sie erfährt, dass sie erblinden wird. »Ich bin ja mal die Allerletzte, die eine so beschissene Krankheit bekommt«, denkt die Akrobatin und Straßenkünstlerin. Sie reist bis nach China in der Hoffnung auf Heilung.
Aus: Wie man aus Trümmern ein Schloss baut. Die Geschichte meines Erblindens und wie ich wieder Lebensfreude fand von Dörte Maack
Ernst und ruhig erklärte Dr. Gröger meiner Mutter und mir, dass Retinitis pigmentosa eine sehr seltene degenerative Erkrankung der Netzhaut ist. Sie ist genetisch bedingt, ist fortschreitend und man kann sie nicht heilen. Nach langen Augenblicken war mein erster Gedanke: »Scheiße, jetzt werde ich blind.« Als Nächstes dachte ich: »So ein Blödsinn! Es gibt doch gar keine Krankheit, die man nicht behandeln kann. Wenn das in Deutschland so ist, dann gibt es ja noch die ganze Welt.«
Der Professor für Augenheilkunde der Hamburger Uniklinik bestätigte die Diagnose von Dr. Gröger. Er führte aus, dass Retinitis pigmentosa eine erbliche Augenerkrankung ist, die eine Zerstörung der Retina, des sehfähigen Gewebes am Augenhintergrund zur Folge hat. Diese noch unheilbare Krankheit ist eine der häufigsten Ursachen des Sehverlusts im mittleren Erwachsenenalter und betrifft etwa einen unter 5.000 Menschen. Anders als beim grünen Star gibt es keine Spezialkliniken, die eine drohende Erblindung aufhalten können. Zur weiteren Abklärungen fuhren mein Ex-Freund Felix und meine Eltern nach Tübingen. An der dortigen Augenklinik mit einem Schwerpunkt für Netzhauterkrankungen wurde mein Befund bestätigt.
»Die sagen dir, dass du eine total seltene, unheilbare Erbkrankheit hast, die leider ihr Gentest nicht bestätigen kann. Dann sagen sie dir, dass sie überhaupt keine Therapie haben und nicht wissen, wann genau du ganz blind bist!«, fasste ich voller Zorn das Ergebnis zusammen. Nie hätte ich gedacht, dass es so einen beschissenen Schlamassel überhaupt gibt und noch viel weniger hätte ich für möglich gehalten, dass ich so eine unglaubliche Scheiße erlebe. Ich hätte den ganzen erbärmlichen Augenklinikladen in die Luft sprengen können!
In meinem unbändigen Zorn zweifelte ich alles an, was die Ärzte zu mir gesagt hatten. Verunsichert und orientierungslos machte ich mich auf die Suche. Immer aufs Neue fand ich Ärzte und Heilpraktiker, die mir Hoffnung auf Heilung versprachen. Niemand schaute genau auf die Diagnose, alle schauten auf »den ganzen Menschen«. Ein Augenarzt in Bayern verschrieb mir so viele verschiedene Kügelchen, Pulver, Tinkturen und Ampullen, dass sie einen ganzen Umzugskarton füllten.
Damals, zu Beginn der 1990er Jahre, war es wie heute populär, in Krankheiten tiefere Bedeutungen zu sehen. In vielen Büchern war zu lesen, dass Augenerkrankungen bedeuten, dass der betroffene Mensch vor etwas die Augen verschließt oder etwas nicht sehen will. Wenn man den inneren Konflikt löst, verschwindet auch das Augenleiden, so die These. Wenn ich zu erblinden drohte, dann müssten es grauenhafte, düstere Wahrheiten sein, vor denen ich die Augen verschloss. Irgendwann hatte ich genug von der Theorie, dass jeder Krankheit eine tiefere seelische Ursache zugrunde liegt, und obwohl ich die Nase gestrichen voll hatte, bekam ich trotzdem keinen megadicken Schnupfen.
Wunderheilung soll helfen
Ich drohte zu ertrinken und griff in meiner Verzweiflung nach Strohhalmen, über die ich sonst nur gelächelt hatte. Schließlich konnte mir nur noch ein Wunder helfen. Ich staunte, wie viele sogenannte Geistheiler genau solche Wunder anboten: ganze Kataloge voll.Als Erstes besuchte ich einen Heiler in Berlin, der auch Arzt war. Das klang seriös. Außerhalb der Sprechzeiten seiner kassenärztlichen Praxis legten mir er und seine Helferin für zehn Minuten ihre Hände über meine Augen, während sie munter weiterplauderten. Es kostete hundert Mark und half nichts.
Auf einem abgelegenen Bauernhof in einem norddeutschen Dorf war ich mit einem philippinischen Heiler verabredet. Eine ganze Reihe Heilsuchender wartete in einem düsteren Schlafzimmer in Eiche rustikal. Plattdeutsche Landwirte saßen neben punkigen Mädchen aus Hamburg. Die umtriebige Bäuerin unterhielt uns alle mit Anekdoten: »Gestern war eine Familie mit einem Sohn hier. Der hat einen Hirntumor. Dem konnte er auch nicht helfen. Die haben sehr geweint.« Die Behandlung fand in der guten Stube auf einer Liege statt. Der Heiler bat mich, meine Augen zu schließen und mich zu entspannen. Wie er erklärte, nahm er dann mittels Geistchirurgie meine Augen aus ihren Höhlen, reinigte sie gründlich und setzte sie wieder ein. Fertig.
So viele Menschen kannten jemanden, der jemanden kannte, der von einem Wunderheiler geheilt wurde, und ich war für jeden Tipp dankbar. Gibt es nicht viel mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können? Jemand erzählte mir von einem spanischen Professor für Parapsychologie. Ich flog nach Barcelona und verbrachte ein entspanntes Wochenende mit viel Meditation und Gebet gemeinsam mit seinen Studenten in einem schönen Haus mit einem Garten voller Blumen. Das war angenehm, aber heilte meine Augen nicht.
Bei vielen meiner Therapieversuche frage ich mich heute selbst: »Wie kann man nur so dumm sein?« Zugleich weiß ich, dass man so dumm sein kann, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht. Nahezu jeder könnte so dumm sein und aus Angst vor dem Ertrinken nach letzten, noch so sinnlosen Strohhalmen greifen.
Je mehr mir bewusst wurde, dass die Augenärzte vielleicht doch recht haben könnten, umso verzweifelter wurde ich. Wer könnte ich denn sein, wenn ich blind bin?
Blinde sind hilflos, einsam, hässlich und nutzlos.
Ich kannte keine blinden Menschen, überhaupt kannte ich keinen Menschen mit einer Behinderung. Ich war aufgewachsen mit den Bildern der »Aktion Sorgenkind« und mit dem Fernsehspot »Kinderlähmung ist bitter, Schluckimpfung ist süß«. Diese Bilder von augenscheinlich sehr bedauernswerten Menschen hatten meine Vorurteile über Behinderte genährt: Blinde sind hilflos, einsam, hässlich und nutzlos. In meiner Vorstellung sah ich erwachsene blinde Menschen, die wie Kinder von anderen Erwachsenen umsorgt wurden. Sie trugen altmodische Kleidung in gedeckten Farben, die ihre Mütter für sie ausgesucht hatten, und dazu praktische Topfhaarschnitte. Sie arbeiteten in Behindertenwerkstätten. Für sie wurde eingekauft, gekocht und geputzt. Sie konnten nichts machen und schon gar nichts entscheiden. Sie reisten nicht und in ihrer Freizeit taten sie irgendwas sehr Langweiliges. Sie hatten kein Liebesleben und keine eigene Familie.
Ich war das Opfer meiner eigenen behindertenfeindlichen Vorurteile. Mir war ganz klar, so kann ich nicht leben, denn das schien mir kein lebenswertes Leben zu sein. Dann wäre ich lieber tot.
Ich beschloss nach China zu fliegen und mich dort in einer Klinik für traditionelle chinesische Medizin behandeln zu lassen. Von Hamburg flog ich nach Amsterdam und stieg dort in den Flieger nach Peking. Neben mir in der engen Sitzreihe saßen zwei junge deutsche Geschäftsreisende. Wir kamen ins Gespräch und natürlich wollten sie irgendwann wissen: »Was hast du denn vor in China?«
Ich hatte keine Lust, ihnen von der drohenden Erblindung, der Hoffnung, der Augenklinik in Peking und alledem zu erzählen. Ich erklärte: »Ich reise privat, will mir einfach das Land ansehen.«
»Du reist allein nach China für drei Monate?«, fragten sie verblüfft. In den 90er-Jahren war China ein Land, in das kaum jemand allein als Tourist reiste.
In der ersten Nacht in der Klinik schlief ich wenig. Der Jetlag ließ mich stundenlang hellwach sein, denn in Deutschland war es schließlich Nachmittag. Ich war so munter, dass ich nicht im Bett bleiben konnte. Ich lief den Gang entlang, umrundete den Innenhof und fand schließlich eine Tür, die ins Freie führte. Eine ganze Weile saß ich in der lauen Nacht unter dem chinesischen Himmel. Ich war so weit weg von zu Hause, so weit wie noch nie zuvor.
Etwa drei Wochen hatte ich schon in der Augenklinik verbracht als Pinyin Zhōngqiūjié, das traditionelle Mondfest, in China gefeiert wurde. Das Mitherbstfest ist für Chinesen eines der wichtigsten Feste im Jahr und findet immer zu Vollmond statt. Zur Tradition gehören die handtellergroßen Mondkuchen mit süßer oder salziger Füllung.
Am Morgen des Mondfests frühstückte ich wie immer allein in einem kleinen Frühstücksraum. Neben meinem Tablett stand eine große farbenfrohe Blechdose voll mit Mondkuchen. Wie sich herausstellte, war das ein Geschenk der Frauen aus der Küche. Das war total nett, trotzdem freute ich mich nur einen kurzen Moment darüber. Obwohl ich wenig über das Mondfest wusste, war mir sofort eins klar: Ich habe hier niemanden, mit dem ich die vielen leckeren Kuchen teilen kann. Bei diesem Gedanken schnürte sich meine Kehle zu.
Das Mondfest war ein glückliches Fest für glückliche Menschen
Auf der Dose waren lachende und tanzende Chinesen mit Musikinstrumenten abgebildet. Das Mondfest war ein glückliches Fest für glückliche Menschen. Aber denen, die an diesem Tag nicht glücklich waren, schrie dieses Fest das Unglück erbarmungslos ins Gesicht. Das Fest der Fülle machte es mir unmöglich, meinen Mangel an Erfüllung, an Zugehörigkeit und Geborgenheit vor mir selbst zu verstecken. Ich wünsche mir immer jemanden, mit dem ich meine Mondkuchen teilen kann. Ich wünsche mir immer jemanden, der an mich glaubt. Ich wünsche mir immer jemanden, der meine Liebe braucht.
Nichts war in Ordnung: Die Behandlung hier würde nicht viel bringen und ich hatte keine Ahnung, wie, wovon und mit wem ich in Zukunft leben sollte. Da saß ich nun mit meinen 28 Jahren in meinem albernen gestreiften Klinik-Pyjama, hässlich, arm, einsam, nutzlos und fast blind. Hier in Peking war ich auf dem Boden aufgekommen. »To hit rock bottom« heißt das auf Englisch. Keine Ahnung, wie es auf Chinesisch heißt.
Die Wochen vergingen, meine Augen wurden nur wenig besser, aber ich hatte trotzdem eine immer bessere Zeit in Peking. Ich war die einzige Europäerin in der Klinik, eine echte Attraktion. Morgens traf ich mich mit den vielen Patienten, die in den Baracken in Gemeinschaftszimmern untergebracht waren, auf dem Klinikgelände. Viele von ihnen machten Qìgōng und ich machte es ihnen nach. Scherzhaft nannten sie meine Bewegungen »Déguó gōng«, deutsches gōng.
WG-Mitbewohner Martin wird zum Vertrauten
Nach Monaten des Aufenthalts in der Klinik fing ich langsam an, darüber nachzudenken, was mir im Leben wichtig ist. Ich will eine glückliche Beziehung, eine Familie, Kinder und gute Freunde. Ich will eine Karriere, das tun, was ich kann und was mir Freude macht. Ich will etwas tun, was anderen etwas bringt, so lauteten meine Antworten auf die wesentlichen Fragen meines Lebens. Wie ich das hinkriegen sollte – blind –, das wusste ich nicht, aber ich wusste wieder, was ich wollte.
Trotzdem war die Zeit nach meiner Rückkehr nach Deutschland keine einfache. Es hilft in diesen Momenten sehr, wenn jemand da ist, der nicht seine eigene Unsicherheit, sondern die Situation des anderen sieht. Es hilft so sehr, wenn jemand dir lange zuhört und dir Taschentücher reicht, wenn die Tränen fließen. Es hilft so sehr, wenn jemand da ist, der mit dir einfach rumalbert, obwohl deine Situation doch eigentlich unendlich traurig ist. Es hilft, wenn jemand dir Dinge gibt, die du zerreißen oder gegen die Wand schmeißen kannst, wenn die Wut dich überrennt. Es hilft, wenn in diesen Momenten jemand da ist, der dich nicht ändern, dich nicht steuern will, der dich einfach nur sein lässt. Es hilft, wenn jemand da ist, der versteht: »Ich weiß, es tut verdammt weh und es wird noch weiter wehtun. Irgendwann wird es besser werden, vielleicht sogar vorbei sein. Irgendwann.
Mein WG-Mitbewohner Martin tat all das für mich. Er schlug mir vor, gemeinsam an die Ostsee zu fahren. Es war ein bewölkter Tag im März. Wir machten einen langen Spaziergang am kalten Sandstrand. Wir gingen Hand in Hand. Das war praktisch, denn so musste ich mich nicht auf meinen Weg konzentrieren. Wir redeten wenig und wir schwiegen viel. Wir gingen in ein altmodisches Café an der Promenade. Um uns herum saßen viele Pärchen, alle im Rentenalter. Wir aßen Kuchen und tranken Filterkaffee aus Kännchen. Wir redeten und wir schwiegen. Mir ging es nicht besser nach diesem Ausflug, aber ich war draußen gewesen.
In den nächsten Tagen wurde es wärmer und die Sonne schien. Martin und ich fuhren an die Elbe. Wir saßen in der Sonne an einer Mauer. Wir redeten mehr und schwiegen weniger. Auf dem Rückweg gingen wir Hand in Hand durch das quirlige Ottensen, tranken Cappuccino in einem Straßencafé. Einmal haben wir sogar gelacht.
In den folgenden Wochen wurden unsere gemeinsamen Aktivitäten immer zahlreicher. Wir liefen durch die Stadt, paddelten auf den Alsterkanälen. Probierten Qìgōng und Yoga aus, saßen in Cafés und redeten sehr viel. Wir gingen ins Kino und Martin beschrieb mir leise die Handlung, wenn sie sich nicht aus den Dialogen erschloss. Wir gingen zusammen auf Partys meiner Freunde, tanzten und lachten. Martin kaufte sich Inlineskates und ich holte meine alten Skates aus ihrem Asyl auf dem Dachboden. Mit Freunden fuhren wir nun häufiger ins Umland und machten lange Skate-Touren. Martin und ich fuhren immer Hand in Hand, und ich fühlte mich sehr sicher. Mit jemandem an meiner Hand, mit jemandem, der auf mich schaute, konnte ich alles machen. Ich konnte hingehen, wo und wann ich wollte. Ich konnte tanzen, skaten, klettern, alles. Ich hatte richtig Spaß daran und fühlte mich immer lebendiger. Martin und ich mussten nicht verabreden, dass er mich abholt oder nach Hause bringt, denn er war ja immer schon da.
»Ich bin nicht in dich verliebt und ich werde auch in Zukunft nicht in dich verliebt sein«, sagte ich zu Martin in unserer WG-Küche. Mir war der Gedanke gekommen, dass er vielleicht mehr für mich sein wollte als ein netter Mitbewohner. Wir unternahmen so viel miteinander, hatten so viel Spaß. Dabei schien mein eingeschränktes Sehen kaum mehr eine Rolle zu spielen. Martin brachte mir kein bisschen Mitleid entgegen, hatte kein Helfersyndrom. Er machte einfach kein Aufheben um meine Sehbehinderung. Er half, wo es nötig war, warnte mich vor Stufen und beschrieb manchmal etwas. Er sorgte sich um mich und für mich, ohne dass es viel Raum einnahm. Das war toll für mich, aber vielleicht war er in mich verliebt und ich benutzte ihn nur als Blindenführhund? Das wäre furchtbar und das wollte ich nicht. Ich musste die Situation dringend klarstellen, und zwar absolut unmissverständlich. Martin reagierte völlig perplex auf meine Ansage. Irritiert erwiderte er: »Mach dir mal keine Gedanken. Ich bin auch nicht in dich verliebt.«
Es war geregelt und nun konnten wir ohne Hintergedanken weiter Zeit miteinander verbringen. Es gab nichts Unausgesprochenes mehr zwischen uns. Gut so. Martin arbeitete zu dieser Zeit als Fotojournalist und fotografierte vor allem Theater und Tanztheaterinszenierungen. Abends war er bei den unterschiedlichen Aufführungen und entwickelte danach bis tief in die Nacht seine Bilder im Labor. Tagsüber hatte er meistens Zeit. Wir gingen weiterhin häufig Hand in Hand, redeten und lachten unentwegt und waren uns selbst genug. Jeder, der uns nicht kannte, hätte keine Sekunde daran gezweifelt, dass wir ein Paar waren.
Der Frühling kam und ich traf auf einer Feier im Mai einen ziemlich scharfen Typen, einen Studenten aus Brasilien. Miguel passte so genau in mein altes Beuteschema, dass ich es beim allerbesten Willen nicht hätte übersehen können. Aber wie sollte ich ein nächstes Treffen mit ihm organisieren?
»Wie sollte ich ihn an einem unbekannten Ort finden? Könntest du mich begleiten?«, fragte ich Martin.
»Nö … habe keine Lust«, lehnte er ab.
Warum denn nicht? Wir waren doch Freunde, er war nicht in mich verliebt und Party mochte er sonst doch auch. Ein paar Tage später kam Martins Exfreundin Martina zu Besuch nach Hamburg und zu dritt gingen wir dann doch zu einer Party im Stadtpark, zu der mich Miguel eingeladen hatte. Ich machte mich zurecht: knallenge, orangefarbene Jeans, alte, schwarze Lederjacke über einem schwarzen Trägertop und Silberschmuck. Das würde Miguel gefallen. Martina war konsterniert, dass Martin auf den dunklen Gehwegen den Arm um mich legte, verstand dann aber, dass ich beschützt werden musste, weil ich so wenig sah. Der heiße Brasilianer kam dann gar nicht auf die Party und das war mir irgendwie egal. Wir hatten auch ohne ihn einen echt schönen Abend.
Kurze Zeit später sah ich morgens etwas, das für mich die ganze Situation schlagartig veränderte. In Martins Bett saß eine Frau mit einer Tasse Milchkaffee in der Hand. »Guten Morgen, Dörte«, begrüßte sie mich fröhlich. Es war Silke, die während meiner Zeit in China in meinem Zimmer gewohnt hatte. Sie war eine langbeinige Musical-Tänzerin mit langen blonden Haaren, sehr nett und lustig. Was machte die denn da?! Das ging auf keinen Fall!
Ich erkundigte mich betont beiläufig bei Martin und erfuhr, dass es mit Silke nichts Ernstes war. Noch nicht. Ohne überhaupt nur eine Sekunde darüber nachzudenken, überhäufte ich Martin in den kommenden Tagen mit allem Charme, der in mir war. Ich hatte Champagner im Blut und flirtete, was das Zeug hielt. Martin wusste gar nicht, wie ihm geschah, und war vorsichtig mit mir. Ich hätte mich nicht stoppen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Die Anziehung, die ich spürte, war wie eine sanfte Welle, eine Naturgewalt, gegen die ich mich nicht stellen konnte. Jedes Diskutieren, Taktieren oder Lavieren war jetzt zwecklos.
Gemeinsam gingen wir am nächsten Wochenende zu einem Kochkurs für Makrobiotik, der zu meiner Shiatsu-Ausbildung gehörte. »Pfui, das gehört sich aber nicht. Das ist unhygienisch!«, rief ein penibler Kochkollege empört, als ich die Suppe abschmecken wollte. Zwar hatte ich den kleinen Löffel abgespült, aber seiner Meinung nach viel zu kurz. »Ich bin nicht unhygienisch. Ich küss’ mich ja auch mit Leuten«, sagte ich lachend. Das war gelogen. Ich hatte ganz lange niemanden geküsst. Die Leute in diesem Kochkurs waren unangenehm verbissen. Dabei machten wir hier doch etwas total Schönes: leckeres Essen zubereiten. Nur Martin war alles andere als verbissen. Er alberte rum und war total süß. Nach dem Kochkurs gingen wir beide in den kleinen Park am Kaiser-Friedrich-Ufer und legten uns unter einen Kastanienbaum ins Gras. Es war noch ein bisschen Zeit, bis Martin zu einem Fototermin losfahren musste. Ich lag auf dem Bauch und plötzlich berührte etwas zart meinen Rücken. Das fühlte sich gut an.
»Was ist das?«, fragte ich leise.
»Das sind Krabbelkäfer«, flüsterte Martin.
Die Krabbelkäfer krabbelten über meinen Rücken und meine Arme, wieder über meinen Rücken zurück, über meine Füße, meine Beine und meinen Po. Das fühlte sich kribbelig aufregend an. Es waren die noch ganz kleinen Früchte der Kastanie, die in seinen Fingern meinen Körper entlangrollten. Sanfte Schwingungen elektrisierten mich und die flatternden Schmetterlinge in meinen Körper verzauberten mich vollends.
Am nächsten Morgen stand ich barfuß in meinem blauen Trägerkleid am Herd und kochte mir einen Tee. Martin kam in die Küche und setzte sich an den Tisch. Unsere schrottig-abgewohnte WG-Küche funkelte. Mein Herz klopfte. Magisch von ihm angezogen setzte ich mich auf seinen Schoß und dann hielt das Universum den Atem an. Es war der Moment, für den ich keine Worte habe. Wir küssten uns. Während dieses zarten langen Kusses war mir klar, dass alles entschieden ist. Ich wusste, dass Martin das auch wusste. Wir gehörten zusammen.
Insgesamt fünf Jahre hatte ich nun gegen die Erblindung angekämpft und den Kampf verloren, aber ich hatte mein Leben zurückgewonnen. Mein dreißigster Geburtstag stand vor der Tür und mir war endlich wieder nach Feiern zumute. So viele unterschiedliche Menschen, die mich auf meinem Weg begleiteten, waren Gäste meiner Geburtstagsparty und ich hatte allen Grund, mit ihnen zu tanzen.
Training mit dem Blindenstock
»Wo bin ich, wo will ich hin und wie komme ich dort am besten an?« Für mich waren das nun ganz praktische und alltägliche Fragen. Mittlerweile konnte ich auch tagsüber nicht mehr allein sicher über die Straße gehen. Ich wartete sehnsuchtsvoll auf das Orientierungs und Mobilitätstraining mit dem weißen Langstock. Eigentlich ist es wegen der Nachtblindheit und dem eingeschränktem Gesichtsfeld bei Retinitis pigmentosa sinnvoll, schon in einem frühen Stadium mit einem Blindenstock unterwegs zu sein. Aus Angst vor Stigmatisierung und aus Scham schieben es aber viele Patienten genau wie ich weit hinaus. Lange stolperte ich lieber über Bordsteine, als mich als behindert zu outen. Aber es gab auch etwas Gutes an meiner Zögerlichkeit: Ich fand von Anfang an den Stock toll, als ich mich endlich dafür entschied.
Ben, mein Mobitrainer, holte mich zu Hause ab. Er war genau richtig für mich: ein junger Sportwissenschaftler mit zerrissenen Jeans und lässigem Cap, der mit mir von Anfang an auf Augenhöhe agierte. Ich fühlte mich von ihm nicht, wie befürchtet, wie ein hilfloser Pflegefall behandelt.
Am Ende der achtzig Einzelstunden Mobitraining galt es eine Feuerprobe zu bestehen, den sogenannten Drop-off. Ben fuhr mich im Auto kreuz und quer durch Hamburg, ließ mich irgendwo aussteigen und nannte mir einen Treffpunkt. Die Spielregeln besagten, dass ich mich von niemandem führen lassen und kein Taxi rufen durfte. Ich sollte allein meinen Weg durch die Stadt finden. Ich stand an einer Straße und sortierte hochkonzentriert alle Geräusche: Passanten, Einkaufswagen eines Supermarkts, Straßenverkehr, Busse und weiter hinten eine Soder U-Bahnlinie. Ich fragte jemanden: »Entschuldigen Sie, welches ist die nächste Bahnstation und könnten Sie mir den Weg dorthin beschreiben, bitte?«
»Soll ich Sie nicht einfach kurz begleiten?«, war die Antwort.
Die Leute waren so viel netter, als ich befürchtet hatte. Aber es nützte ja nichts, ich musste es an diesem Tag ohne fremde Hilfe schaffen. Schließlich fand ich den Weg zur Bahnstation, fuhr quer durch die Stadt, stieg in einen Bus und erfragte beim Aussteigen den Weg zum vereinbarten Café. Dort wartete Ben schon auf mich. Ich hatte es geschafft: Ich war nun eine qualifizierte Blindgängerin.
3. Schwerpunktprüfung Leichtathletik
Mein Studium hatte ich viele Semester lang schleifen lassen, erst wegen der Erfolge mit der Kirschkern Company, einem Kindertheater, das ich zusammen mit zwei Freundinnen machte, und später, weil ich lernen musste, mit dem Sehverlust klarzukommen. Jetzt aber dachte ich: »Wenn ich als sehbehinderte Frau beruflich vorankommen will, ist es am besten, wenn ich einen Hochschulabschluss habe.« Aber wenn ich an der Uni noch einmal richtig loslegen wollte, sollte es in einem Fach sein, auf das ich richtig Lust hatte. Das Hauptfach, das ich von Anfang an am liebsten studiert hätte, war Sport. Jedoch war der NC dafür in Hamburg enorm hoch. Keine Chance also. So lange, bis ich mit der Diagnose der Retinitis pigmentosa in die Kategorie »Härtefall« fiel.
Ich nahm den Zweiflern in der Behörde mit einem mehrseitigen handgeschriebenen Brief voller Leidenschaft und guten Argumenten den Wind des Widerstands aus den Segeln: »Natürlich macht es Sinn, dass eine Frau mit einer progressiven Augenerkrankung Sport auf Lehramt studiert.« Ich könnte doch im Bewegungsbereich mit mehrfach behinderten Kindern oder im Reha-Bereich arbeiten. Das mit dem Lehramt war eigentlich nicht mein Ziel. Aber es ließ sich nicht vermeiden, weil ich in Anglistik und Pädagogik schon fast alle erforderlichen Scheine hatte und beide Fächer mit Sport als Hauptfach nur in einem Lehramtsstudium zu kombinieren waren. Zugegeben, es klingt nicht so ganz vernünftig, blind Sport zu studieren, aber ich habe diese Entscheidung nicht bereut, ganz im Gegenteil. Sport war im Gegensatz zur anonymen vertrockneten Geisteswissenschaft eine Offenbarung für mich.
Die ersten beiden Schwerpunktprüfungen vor der Kommission des Lehrerprüfungsamts machte ich im Turnen und im Tanzen. Das war himmlisch leicht, weil ich dafür mehr als genug Können von der Zirkusschule im Repertoire hatte.
Die dritte Schwerpunktprüfung musste ich in Leichtathletik machen und das war, anders als Turnen und Tanzen, überhaupt kein Heimspiel für mich. In dieser Prüfung wurde auch Hürdenlauf bewertet. Ich hatte schon so viele Sonderregelungen und wollte ungern noch ein weiteres Mal um eine Alternative bitten. Vor allem aber waren die Dozentin und meine Kommilitonen der Meinung, dass man blind Hürdenlaufen kann, oder sie wollten zumindest wissen, ob es möglich ist. Also los. Die Voraussetzung für einen gelungenen Hürdenlauf war eine hundertprozentig exakte Technik, aber wie sollte ich wissen, wo ich langlaufen und wann ich abspringen sollte? Wir probierten alles aus: Wir umwickelten Schaumstoffröhren mit rot-weißem Absperrband, aber auch das konnte ich kaum sehen. Wir legten eine Laufbahn aus Matten. Ich rannte auf Geräusche zu, lief an der Hand eines Kommilitonen und ließ mich an einem Band führen. Am Ende war klar: Der Rhythmus entscheidet alles.
Diesen Rhythmus musste ich im Schlaf und vor allem blind beherrschen. Das Ende des Semesters kam und damit der Prüfungstag inklusive meines blinden Hürdenlaufs. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was die Prüfungskommission über dieses Unterfangen denken könnte, denn ich wollte mich nur auf meine Performance konzentrieren: Gewonnen oder verloren wird schließlich zwischen den Ohren. Als ich an der Reihe war, rannte ich auf Kommando los: »Lauf, lauf, lauf, Sprung, lauf, lauf, lauf, Sprung, lauf, lauf, lauf, Sprung …«, das war der Takt in meinem Kopf. Und das Ergebnis? Keine Hürde gerissen, Technik nach monatelangem Training sowieso perfekt. Die Prüfungskommission fand, das war insgesamt eine Eins. Natürlich war das völlig sinnlos für meine Karriere, aber wichtig für mein Selbstbewusstsein.
Zuwachs mit Charakter
Im Jahr unseres Umzugs ins Umland von Hamburg bekamen Martin und ich Zuwachs. Leo, ein hübscher, schwarzer Flat-coated Retriever zog bei uns ein. »Ein Blindenführhund« hatte mein Augenarzt auf das Rezept geschrieben, das ich zusammen mit dem Kostenvoranschlag der Führhundschule bei meiner Krankenkasse eingereicht hatte. Ute Luhmann, die Führhundtrainerin, hatte mich schon vor einiger Zeit kennengelernt und befunden: »Du brauchst einen Hund mit Temperament. Mit einer Schlaftablette wärst du gestraft.«
Leo war nicht nur temperamentvoll, er war auch dominant und hatte einen starken Charakter. Du darfst mich streicheln, aber arbeiten werde ich für dich nicht, schien er mir in den ersten Tagen vermitteln zu wollen. »Du musst ihm zeigen, wer der Boss ist, sonst wird das nichts«, meinte Ute. Ich sollte Leo bei Fehlern kurz und schmerzhaft in die Seite greifen und mit grimmiger Stimme »nein« sagen. Oje, musste das wirklich sein? Ich konnte doch kaum einer Fliege etwas zuleide tun.
Es fiel mir so schwer, konsequent und streng zu sein, dass Ute schon die ganze Einarbeitung scheitern sah. Als Leo dann im Freilauf wieder nicht auf Kommando zu mir kam, sondern stattdessen gemütlich auf einem Acker liegen blieb und Fallobst mampfte, hatte ich die Faxen dicke. Erbost lief ich, dirigiert von Utes Richtungsangaben, zu dem eigensinnigen Hund, packte ihn am Halsband und schleifte ihn unter ständigem »Nein, nein, nein …« quer über den Acker zurück zum Fußweg.
»Na, wie war ich?«, fragte ich Ute atemlos.
»Ich glaube, du hast ihn beeindruckt«, meinte sie mit ein bisschen Bewunderung.
Mein facettenreicher Blindenführhund arbeitete treu, bis er fast dreizehn Jahre alt war, und wurde dann von seiner jungen Kollegin Lila, einer schwarzen Labradorhündin, abgelöst. Heute hat Leo sein Grab in unserem Garten und für immer einen Platz in meinem Herzen.
Hochzeit mit Blitz und Gewitter
Obwohl Martin und ich beide seit dem ersten Kuss wussten, dass wir unser Leben miteinander verbringen möchten, dauerte es noch weitere vier Jahre, bis wir uns vor Gott und der Welt offiziell das Ja-Wort gaben. Es brauchte Zeit, bis wir uns im Konsens für meine Ideen für unsere Hochzeitsfeier entscheiden konnten. »Schön wäre, wenn wir mit den Gästen auf einer Wiese ein großes Picknick machen«, war Martins erste Idee. Ich sah ihn in alten Jeans und labbrigem T-Shirt mit einem Pappbecher im Löwenzahn sitzen. Ich wollte nichts an ihm ändern, aber das mit dem Picknick konnte auf keinen Fall so bleiben. Ich musste behutsam ganz von vorn anfangen, denn Martin hatte seit seiner Kommunion keinen Anzug mehr getragen. Nach langer freudvoller Planung hatten wir das Gefühl, alles für ein schönes Fest getan zu haben. Vor allem taten unsere Freunde und unsere Verwandten und Nachbarn alles, damit es schön werden würde: ein großer, geschmückter Kranz um die Eingangstür und zerpoltertes Porzellan, ein blühender Garten voller roter Herzballons, ein Empfang mit Champagner, ein geschmückter Saal, ein feines Festessen, eine selbst gebackene mehrstöckige Hochzeitstorte, bewegende Reden, Showeinlagen mit Jonglage, Einrad und Comedy, Musik und Tanz …
Doch selbst wenn man alles tut, damit es schön wird, kann man sich nicht gewiss sein, dass es wirklich schön wird. Aber es wurde alles schön, wunderschön! Meine Trauzeugin Sabine nahm mich in Empfang, nachdem ich schon zwei Stunden für hochgestecktes, mit Rosenblüten verziertes Haar und fürs Make-up beim Friseur gesessen hatte. Ich zog mein Brautkleid, Schmuck und Schuhe an und wir warteten auf Martin, der mich gemeinsam mit seinem Trauzeugen Daniel abholen sollte. Würde Martin weinen, wenn er mich sah? Nein, er lachte. »Sag’ ich doch, der lacht immer so«, meinte Sabine und musste dann auch lachen. Die kirchliche Trauung fand in unserem großen Garten statt. Unsere fast hundert Gäste und alle Nachbarn waren gekommen und ein Gospelchor sang. Mitten in der Zeremonie überraschte uns ein heftiges Gewitter: Blitze zuckten, Donner grollten und für einige Momente schüttete es wie aus Eimern. Wir sagten »Ja« zueinander und küssten uns dann leidenschaftlich unter dem Beifall unserer Gäste.
Nur Einsen im Examen
Was noch fehlte, war der Studienabschluss zu meinem Glück. In meinen Regalen türmten sich haufenweise Ordner mit handgeschriebenen Mitschriften aus unzähligen Vorlesungen und Seminaren. Meine eigene Schrift war für jeden gut lesbar, nur für mich nicht mehr. Ich musste bei einigen Themen ganz von vorn anfangen, wenn ich das Examen bestehen wollte. In Englisch wechselte ich meinen Schwerpunkt von Linguistik zu Literaturwissenschaft. In Windeseile arbeitete ich mich per Hörbuch durch den Kanon der englischen und amerikanischen Literatur. Stapelweise Fachliteratur musste ich auf Tonkassetten auflesen lassen, und zwar so, dass ich damit wissenschaftlich arbeiten konnte. Neunzig Minuten Fußnoten anhören, war ein ziemlich zweifelhaftes Vergnügen, auf das ich lieber hätte verzichten mögen, aber ich hatte keine Wahl.
»Bewegungstheater mit blinden und sehbehinderten Menschen« war der Titel meiner Examensarbeit, in der ich meine beiden bisherigen Lebensthemen zusammenbringen konnte. Für diese Abschlussarbeit arbeitete ich mich auch durch alle Autobiografien blinder Menschen, die ich in die Hände bekommen konnte. Diese Lebensgeschichten waren für mich ungeheuer inspirierend: Die Amerikanerin Helen Keller wurde, obwohl blind und taub, zu einer weltbekannten Schriftstellerin. Der Franzose Jacques Lusseyran hatte als blinder Teenager eine Widerstandsgruppe innerhalb der Résistance aufgebaut, wurde nach Buchenwald deportiert und überlebte das Konzentrationslager. Der Österreicher Andy Holzer und der Amerikaner Erik Weihenmayer kletterten blind auf die höchsten Gipfel der Welt und sie haben beide mittlerweile den Mount Everest bezwungen. Die Deutsche Sabriye Tenberken reiste allein nach Tibet, baute dort eine Blindenschule auf und gründete später in Indien eine Akademie für Sozialunternehmer aus aller Welt. Verena Bentele gewann als blinde Biathletin unzählige Medaillen, bevor sie zunächst Bundesbehindertenbeauftragte und später Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes, des VdK, wurde. Wenn all das möglich war, dann müsste es doch auch möglich sein, dass ich es in meinem eigenen kleinen Leben noch zu etwas brachte.
»Sensationell, das haben wir ganz selten«, raunte eine Mitarbeiterin des Lehrerprüfungsamts mir vor meiner letzten mündlichen Prüfung zu. Einige Tage später hielt ich ein Examenszeugnis in der Hand, auf dem es überall nur Einsen gab, und es stand mein Name darauf. Wie konnte das passieren? Gute Unterstützung von vielen Seiten, Glück und natürlich auch ein bisschen Fleiß bildeten ein ziemlich fruchtbares Gemisch. Stolz war ich aber vor allem darauf, dass ich keinen Blindenbonus bekam. Das Lehrerprüfungsamt verteilt keine Trostpreise. Letztendlich war das Ergebnis auf dem Papier nicht wichtig, denn ich wollte ja gar nicht als Lehrerin an einer Schule arbeiten. In Praktika an einer Regelschule und an der Blindenschule hatte mich der 45-Minuten-Takt, die Vorgaben durch die Lehrpläne und die ständigen Kämpfe um die Disziplin gehörig abgeschreckt. Ich hatte die Schule früher zwar gemocht, aber etwas gelernt habe ich dort nicht wegen, sondern trotz des Unterrichts.
Eine Ausstellung, bei der es nichts zu sehen gibt
Mit dem Thema meiner Examensarbeit begann ich, mir einen Namen in einer winzigen Nische zu machen. Ich war als Referentin für Theaterpädagogik mit blinden und sehbehinderten Kindern und Jugendlichen unterwegs und schrieb Artikel über dieses Thema. Mich interessierte jetzt alles, was mit Blindheit zu tun hatte, besonders wenn es ein wenig aus der Reihe fiel. Deshalb war ich neugierig auf eine Ausstellung in der Hamburger Speicherstadt, in der es nichts zu sehen geben sollte. Ich hatte keine Vorstellung, was mich hier erwartete, weder bei meinem ersten Besuch und schon gar nicht in den darauffolgenden Jahren.
Gemeinsam mit sechs anderen Gästen wurden Martin und ich von einem Mann begrüßt: »Herzlich Willkommen beim Dialog im Dunkeln. Mein Name ist Bernd. In unserer Ausstellung erleben Sie alles ausschließlich mit Händen, Ohren und der Nase; nur nicht mit den Augen, denn unsere Ausstellungsräume sind absolut lichtlos.
Wer war der Mann, der das geniale Konzept von »Dialog im Dunkeln« auf die Beine gestellt hatte? Prof. Dr. Andreas Heinecke, von allen nur Andreas genannt, kam als junger Mann in Kontakt mit Matthias, einem durch einen Autounfall erblindeten Journalisten. Andreas unterstützte ihn dabei, beim Südwestfunk als Dokumentar arbeiten zu können. Lange schon hatte sich Andreas mit den Themen »Vorurteile, Diskriminierung und Ausgrenzung« beschäftigt und wurde im Kontakt mit Matthias dennoch von seinen eigenen Vorurteilen gegenüber Menschen mit einer Behinderung überrascht. Durch diese Begegnung entstand die Idee, das Licht auszumachen und die Rollen zu tauschen. Die Blinden würden die Sehenden sein und die Sehenden wären blind.
Schon bevor ich Andreas kennenlernte, wurde Klara auf mich aufmerksam. Die quirlige, energiegeladene Frau arbeitete eng mit Andreas zusammen und wurde später die Geschäftsführerin des Dialogmuseums in Frankfurt.
»Was machst du denn sonst so?«, wollte sie wissen. Dabei saß sie an ihrem Schreibtisch und ich hockte vor ihr auf dem Boden, weil ich Leo davon abhalten wollte, den Papierkorb auszuräubern. Augenhöhe sieht zwar anders aus, aber es wurde doch der Beginn einer partnerschaftlichen und sehr erfolgreichen Zusammenarbeit.
Von Klara erhielt ich den Auftrag, ein pädagogisches Begleitheft zu schreiben und einen pädagogischen Workshop für Schulen zu entwickeln. Beides hatte es in Ansätzen in früheren Jahren schon gegeben, aber darauf konnte ich nicht zurückgreifen. Ich schrieb eine Handreichung für Lehrer mit Informationen, Spielund Übungsideen und mit Arbeitsblättern für alle Klassenstufen. Es wurden achtzig DIN-A4-Seiten. Die Welt musste doch noch so viel über das Leben blinder Menschen erfahren. Der Workshop sollte den Schulklassen vor dem Ausstellungsbesuch Einblicke in die Lebenswelt von blinden und sehbehinderten Menschen geben, so dass der Besuch in der Dunkelheit für die Schüler nicht nur ein großer Spaß sein würde.
Mir war es wichtig, dass der Workshop von jemandem geleitet wird, der selbst nichts oder wenig sieht. Es würde sich lohnen, sich dieser Herausforderung zu stellen. Mir zitterten anfänglich die Knie, wenn ich blind vor einer unbekannten Gruppe sehender Schüler stand. »Hoffentlich sind die nett zu mir«, bangte ich dann jedes Mal, doch das waren sie ausnahmslos immer.
»Willst du nicht fest für mich arbeiten?«, fragte Andreas mehr als einmal. Er zog alle Register: Er lud mich mehrfach zum Essen und zum Kaffeetrinken in sein Büro ein, lobte meine Examensarbeit und gab mir Aktenordner mit seinem Material zur Idee »Theater im Dunkeln«. Ich war verlockt und geschmeichelt, aber ich wollte keine Festanstellung. Ich wusste, dass ich dafür nicht gemacht bin. Ich bin nicht gut darin, dass mir jemand fortwährend sagt, wann ich wo, was und wie machen soll. Ich bin nicht gut darin, einen Chef zu haben. Doch Andreas machte mir irgendwann ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte. Also gut, ich würde es versuchen und unterschrieb einen Vertrag für die Position der »pädagogischen Referentin«. Ich bezog ein großes Büro im sechsten Boden des alten Speichers direkt neben Andreas’ Eckbüro. Es beflügelte mich sehr, nun auch für andere Ausstellungen weltweit zu arbeiten, zu reisen und inhaltlich alle Freiheit zu haben.
Niemand war erstaunt, dass wir uns für Kinder entschieden
»Beide Streifen pink«, beschrieb mir Martin den Teststreifen. Wieder würde ein medizinischer Test mein Leben umkrempeln. Dieses Mal war ich damit nicht allein, auch für Martin würde nichts mehr so sein wie zuvor. »Wir sind schwanger«, flüsterte ich, und Martin umarmte mich innig. Wir konnten es nicht fassen.
Eileen hatte unglaublich dichtes, langes dunkles Haar und war nach der Geburt überhaupt nicht zerknautscht. Sie verzauberte uns und alle um sie herum gleich mit. »Was ist los?«, fragte Martin, als er mich wenige Tage nach der Geburt tränenüberströmt im Bett sitzen sah.
»Ich bin einfach so glücklich«, schluchzte ich.
Viele Freunde und Verwandte kamen zu uns, um Eileen zu begrüßen. »Die Leute sagen, dass es so schade ist, dass Dörte nicht sehen kann, was für eine hübsche Tochter sie hat«, erfuhr ich von meinem Neffen Sven. Obwohl es oft unpraktisch war oder mich einschränkte, war für mich Blindsein mittlerweile normal. Ja, meine Tochter und später meinen Sohn, meine beiden Kinder habe ich noch nie gesehen, aber das muss ich auch nicht, denn ich weiß: »Das sind die schönsten Kinder der Welt.«
Stillen, Wickeln, Anziehen, Baden, Spaziergänge im Dorf mit Tragetuch oder Kinderwagen – alles schien mir blind genauso einfach oder schwierig zu sein, wie es sehend gewesen wäre. Tasten und Fühlen konnten in der Babypflege das Sehen für mich meistens gut ersetzen. Unser erstes Kind stellte dennoch alles auf den Kopf, machte die Nacht zum Tag und forderte uns mit Haut und Haar.
Glanz und Elend liegen nah beieinander
Kurz nach Eileens Geburt wurde bei Martins Mutter Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Trotz des Schocks, der Trauer und obwohl sie schon sehr geschwächt war, verbrachten wir einen unvergesslich schönen Babynachmittag mit ihr im Krankenhaus. Es war der erste Tag, an dem Eileen über lange Zeit hinweg im Wipper lag, lachte und schäkerte. »Ich kann nur ganz kurz sprechen, das Kindchen muss doch gleich trockengelegt werden«, wies sie Anrufer an diesem Tag entschieden ab. Kurze Zeit später schon verstarb meine Schwiegermutter in einem Hospiz. Meine eigene Mutter unterstützte uns mit all ihrer Herzenswärme, genau wie wir es uns ausgemalt hatten. Sie fuhr mit Eileen spazieren, schaukelte sie und spielte mit ihr. Vier Tage nach Eileens Geburt kam die Tochter meines Neffen zur Welt. Pia war das erste Urenkelkind meiner Mutter. Sie hatte gut zu tun mit ihrer wachsenden Enkelschar.
Nachmittags und abends ging es meiner Mutter stets hervorragend und sie war voller Tatendrang, aber morgens ging es ihr sehr schlecht. Die Ärzte fanden dafür keinen Grund. Als es ihr zunehmend schlechter ging, ließ ich sie in ein Krankenhaus einweisen und bald hatten wir bittere Gewissheit: Sie hatte einen Hirntumor. »Es tut mir leid wegen Eileen«, sagte sie zu mir. Besonnen kümmerten sich meine Brüder und ich um alle nötigen Schritte, waren aber zutiefst erschüttert über den anonymen Krankenhausbetrieb und die Ratlosigkeit der Ärzte. Auf der Krebsstation gab es keine Hoffnung mehr für meine Mutter und Eileen und Pia durften meine Mutter dort auch nicht besuchen. Zu Pfingsten entschied ich dann Hals über Kopf, sie in ein Hospiz verlegen zu lassen.
Es war die richtige Entscheidung, denn hier wurde sie vom Personal liebevoll umsorgt und konnte in ihren letzten Lebenstagen noch einige Stunden ungestört mit ihrer Familie verbringen. Als sie schon nicht mehr sprechen konnte, reagierte sie trotzdem beherzt auf die Rufe von Eileen und Pia, die mit ihr in ihrem Bett sitzen durften. Neubeginn und Abschied, Glanz und Elend lagen so nah beieinander. Es tat mir weh, dass meine Kinder nicht mit meiner wundervollen Mutter und auch nicht mit Martins Mutter aufwachsen würden. Das Band zwischen meiner Mutter und mir jedoch war so eng, dass ich bis heute nie das Gefühl hatte, sie für immer verloren zu haben.
Kinder und Karriere
Unser Sohn kam einige Tage vor meinem vierzigsten Geburtstag zur Welt. Er hatte mir nicht nur die Geburt leicht gemacht, er war überhaupt ein sehr entspannter Säugling, der viel schlief. Martin hatte die letzten Jahre bis zur Erschöpfung in einer kleinen IT-Firma gearbeitet, die ihn als Cashcow gut zu melken wusste. Nun war er froh, von der neuen Elterngeldregelung profitieren zu können. Er würde vierzehn Monate Elternzeit nehmen, während ich bald wieder in Nadelstreifen und mit Milchpumpe im Gepäck zur Arbeit fahren würde. In den ersten Monaten als Working Mum mit zwei Kids war ich, mit Ausnahme meiner Teilnahme am Internationalen Meeting des »Dialog im Dunkeln« in Israel, nur in Hamburg im Einsatz. Im Herbst fuhren wir dann mit einem großen Team nach London.
Jahre später erreichte mich wieder eine überraschende Anfrage. Die Fortbildungsakademie der Wirtschaft war auf der Suche nach einer Moderation für einen Inklusionskongress und fragte beim »Dialog im Dunkeln« an. »So was machen wir doch gar nicht«, kommentierte Angela die Anfrage. Sie hatte natürlich recht: Veranstaltungsmoderation gehörte nicht zu unserem Portfolio. »Ich würde das gern ausprobieren«, meinte ich und sie ließ mich machen. Wie lautete noch mal dieses Zitat von Pippi Langstrumpf? »Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe.« Stimmt, dieses Motto hatte mich tatsächlich schon öfter weitergebracht, aber hier ging es nicht um Spielerei, sondern um einen Wirtschaftskongress mit zweihundert Teilnehmern, Fachvorträgen renommierter Wissenschaftler und Podiumsdiskussion. Das Ganze sollte im Konferenzzentrum bei Airbus in Finkenwerder stattfinden. Ich musste mich vorbereiten, also: »Lauf, lauf, lauf, Sprung!«
Thomas, ein Journalist und Medientrainer, mit dem ich gemeinsam die Ausbildung zur Teamentwicklerin gemacht hatte, schien mir ein geeigneter Coach zu sein. Er wusste, worauf es bei Podiumsrunden ankam, und ich war dankbar für seine Expertise. Akribisch planten wir Eingangsfrage, Leitfragen, weiterführende Fragen und Abschlussfrage. Neben dem Coaching mit Thomas und meiner Recherche im Internet zum Veranstaltungsthema »Berufliche Inklusion von Menschen mit Behinderungen« traf ich mich zum ausführlichen Briefing-Gespräch mit Manfred Otto-Albrecht, meinem Auftraggeber. Wir sprachen den Ablauf der Veranstaltung, die Hintergründe und Ziele und alle Referenten und Podiumsgäste durch. Die weiteren Schritte meiner Vorbereitung ging ich völlig intuitiv.
Ich schrieb alle Bühnenakteure an und verabredete mich mit ihnen für telefonische Vorgespräche. Gerade weil ich die anderen Menschen auf der Bühne nicht sehen würde, wollte ich sie vorher schon ein wenig kennenlernen. Tatsächlich erfuhr ich in diesen Telefonaten nicht nur inhaltlich eine Menge, sondern ich gewann auch einen Eindruck, mit welcher Energie jemand über sein Thema sprechen würde. Ich erkannte, in welchen Aspekten echte Leidenschaft bei einem Referenten steckte. Mit dem Destillat aus all diesen sachlichen, fachlichen und emotionalen Informationen erstellte ich mir meinen ersten Moderationsleitfaden. Ich konnte noch nicht ahnen, dass dieses Verfahren mich über die Jahre durch über hundert Moderationen begleiten würde.
Kleines Fazit
Wenn ich die gesamte Geschichte meiner Erblindung heute betrachte, ist vieles gar nicht so anders gekommen, als ich es mir vor der Diagnose gewünscht habe. Das Leben hat meine eigenen kleinen Pläne nicht einfach ignoriert, sondern nur auf eine besondere Weise interpretiert. Mein Leben ist insgesamt sogar schöner und erfüllender geworden, als ich es mir selbst hätte ausdenken können. Zunächst schien meine Erblindung nur Trümmer zu hinterlassen: Meine Karriere, meine Liebesbeziehung, meine Zukunftspläne, mein Selbstvertrauen und mein Selbstwertgefühl, alles war kaputt. Aber ich hatte die Chance, alles Schritt für Schritt wiederaufzubauen: Schließlich konnte ich aus Trümmern ein Schloss bauen.
Heute arbeitet Dörte Maack als Moderatorin, Rednerin und Coach. Sie lebt mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern und dem Blindenführhund in der Nähe von Hamburg. Über die seelische Überwindung von Retinitis pigmentosa hat sie ein Buch geschrieben: Wie man aus Trümmern ein Schloss baut. Die Geschichte meines Erblindens und wie ich wieder Lebensfreude fand, ©Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2020. Der obige Text ist ein Auszug aus dem Buch.