
PD Dr. Oliver Pullig ist Biologe und verantwortlich für die Entwicklung moderner Zelltherapien am Universitätsklinikum Würzburg. Er leitet auch das Projekt ENCANTO, mit dem erforscht wird, ob körpereigenes Knorpelgewebe aus der Nase eine Alternative zur Knieprothese sein kann.
Herr Pullig, nehmen wir an, Sie haben einen guten Bekannten, der an einer mittelschweren Kniearthrose leidet. Welche Therapieempfehlung würden Sie ihm geben?
PD Dr. Oliver Pullig: Ich würde eine konservative Therapie empfehlen. Physiotherapie, Muskelaufbau, medikamentöse Schmerztherapie. Wichtig ist auch zu schauen, ob eine Fehlstellung der Beinachse vorliegt. Hier kann man durch eine Begradigung – Einlagen oder Orthesen – viel an der Ursache tun.
Wenn alle konservativen Maßnahmen ausgeschöpft sind, kommt es auf die Größe des Defektes an. Es gibt Verfahren, die in Deutschland zugelassen sind, um kleine bis mittelgroße Knorpeldefekte mit zellbasierten Verfahren zu behandeln. Leider ist unser Verfahren in Deutschland noch nicht zugelassen. Das wird noch ein bis zwei Jahre dauern.
Was genau wird im ENCANTO-Projekt erforscht?
PD Dr. Oliver Pullig: In den Vorstudien haben wir Patienten mit fokalen Defekten behandelt. Das sind Defekte, die durch Stürze oder Sportverletzungen entstehen, aber nicht unbedingt altersbedingt sind. Die Zielgruppe, die wir jetzt ansprechen wollen, sind Patienten mit Arthrose. Deshalb haben wir Patienten mit Retropatellararthrose in unsere Studie aufgenommen. Das ist eine Form der Arthrose, die auch den Bereich der Rückseite der Kniescheibe betrifft.
Ist diese Form der Arthrose häufig?
PD Dr. Oliver Pullig: Ja, die Retropatellararthrose ist häufig. Und sie führt vor allem zu einer Verschlechterung der Knorpelstruktur. Hinzu kommt, dass es kein zugelassenes Therapieverfahren gibt, das hier hilft.
Wenn nichts mehr hilft, wird meist ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. Das heißt, wenn sich Ihr Verfahren in einigen Jahren bewährt hat, kann es eine Alternative zur Prothese werden?
PD Dr. Oliver Pullig: Das ist unser großes Ziel. Wir haben jetzt in unserer Studie Patienten in verschiedenen Stadien der Erkrankung. Bei einigen ist der Verlauf mild, bei anderen ist kaum noch Knorpel vorhanden und die beiden Knochenoberflächen reiben aufeinander. Dieses letzte schwere Stadium wird standardmäßig mit einer Prothese behandelt. In der ENCANTO-Studie versuchen wir, auch Patienten mit schwerer Arthrose mit unserem Knorpelprodukt zu versorgen. Ob es der Prothese überlegen ist, wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht.
Bei Ihrem Verfahren wird Knorpel aus der Nasenscheidenwand entnommen, im Labor künstlich vermehrt und wieder im Knieknorpel platziert. Könnten auf die gleiche Weise auch Arthrosen in der Schulter oder in der Hüfte geheilt werden?
PD Dr. Oliver Pullig: Grundsätzlich eignet sich das Verfahren auch für andere Bereiche. Im Rahmen einer Schweizer Ausnahmegenehmigung wurde es bereits im Schultergelenk angewendet. An der Hüfte wurde es noch nicht durchgeführt. Das liegt daran, dass der operative Zugang zur Hüfte sehr schwierig ist.
Wie lange dauert die Züchtung des Knorpels?
PD Dr. Oliver Pullig: Der gesamte Vorgang von der Entnahme bis zur Implantation im Krankenhaus dauert 31 Tage. Die eigentliche Herstellung dauert 29 Tage.
Es gibt bereits zellaufbauende Verfahren, die bei Kniearthrose angeboten werden. Wie gut ist die wissenschaftliche Evidenz für den Knorpelaufbau durch eine Stammzelltherapie, die in der Regel selbst bezahlt werden muss? Ist die Investition von rund 4000 Euro pro Knie sinnvoll?
PD Dr. Oliver Pullig: Wir haben in Würzburg und Berlin zwei Studien zur Stammzelltherapie bei Kniearthrose durchgeführt. Nach zwei Jahren stellten wir fest, dass die Stammzellen dem Vergleichsmedikament Hyaluronsäure nicht überlegen waren. Das war für uns eine große Enttäuschung.
Sie würden bei Kniearthrose also nicht zu einer Stammzelltherapie raten?
PD Dr. Oliver Pullig: Die Stammzelltherapie, die wir durchgeführt haben, würde ich nicht empfehlen. Für die Stammzelltherapie, die derzeit von niedergelassenen Ärzten angeboten wird und bei der Stammzellen aus dem Fettgewebe isoliert werden, fehlen mir kontrollierte, vergleichbare Studien. Oft ist es so, dass die Gabe von irgendwelchen Infusionen in das Kniegelenk eine kurzfristige Besserung bringt, einfach dadurch, dass sehr viele Entzündungsfaktoren verdünnt werden oder auch kleine Abriebpartikel herausgespült werden. Das erreicht man, indem man Hyaluronsäure oder eben Stammzellen injiziert. Ob die Stammzellen die Ursache dafür sind, dass die Schmerzen kurzfristig zurückgehen, das kann man aber nicht sagen.
Wie bewerten Sie die Plasmatherapie (PRP) bei Kniearthrose?
PD Dr. Oliver Pullig: Bei der Plasmatherapie reichert man im Plasma Blutplättchen an, von denen man weiß, dass sie ein regeneratives Potenzial haben. Diese spritzt man dann in das Kniegelenk, in der Hoffnung, dass die Entzündung zurückgeht und sich Knorpel aufbaut. Auch hier ist eine Langzeitwirkung noch nicht nachgewiesen.
Am Ende heißt es für Menschen mit starker Arthrose also trotz allem: Knieprothese?
PD Dr. Oliver Pullig: Das ist keine schlechte Entscheidung. Die meisten Patienten mit einer Knieprothese haben einen langen Leidensweg hinter sich und durch die Prothese eine deutlich höhere Lebensqualität.
Bei Knie- Hüft- und Schulterarthrose werden derzeit häufig Prothesen eingesetzt. Wird das in zehn Jahren immer noch so sein oder ist die Verpflanzung von im Labor gezüchteten Knorpel dann die Therapie der Wahl?
PD Dr. Oliver Pullig: Die Prothesenimplantation hat große Fortschritte gemacht, nicht zuletzt durch die computergestützte Operation. Auch wenn andere regenerative Verfahren in zehn Jahren ihre Wirksamkeit bewiesen haben sollten, wird es noch dauern, bis sie den Markt durchdrungen haben. Deshalb glaube ich, dass schwere Kniearthrosen auch dann noch überwiegend mit Prothesen behandelt werden.
Herr PD Dr. Pullig, vielen Dank für das Gespräch!