Ein Text von Claudio Armbruster
Meine Eltern haben immer alles im Griff. Sie kümmern sich um meinen schwerstbehinderten Bruder, sie unterstützen meine Frau und mich, betreuen die Enkel. Sie helfen, wo sie können. Dann brauchen sie plötzlich selbst Hilfe.
2017 bekommt meine Mutter Lungenkrebs – die Statik der Familie gerät ins Wanken.
Davor
»Mutter böse! Oliver traurig! Oliver wegwerfen! Neuen Oliver kaufen!«
So spricht mein Bruder.
Für Oliver ist unsere Mutter der wichtigste Mensch, Drehund Angelpunkt, Stimmungsbarometer. Wenn wir gemeinsam am Esstisch sitzen, spricht er ausschließlich mit ihr, mein Vater und ich sind Nebenfiguren. Ein »Guten Morgen« oder »Guten Appetit« bekommen wir nur, wenn Mutter ihn dazu auffordert. Die ganze Zeit beobachtet er sie: Lächelt sie, freut er sich. Ist sie ernst, macht er sich Vorwürfe, weint oder bekommt einen Wutanfall.
Unsere Mutter hat sich nie damit abfinden können, dass Oliver sich anders verhält, dass er nicht »normal« ist. Wenn er unkontrolliert schreit oder zu laut Selbstgespräche führt, bittet sie ihn, leise zu sein. Wenn er krampft und zuckt, mahnt sie ihn zur Ruhe. Sie kann es nicht leiden, wenn andere Menschen ihn aufgrund seines Andersseins beobachten, beim Einkaufen oder im Restaurant. Oliver merkt das.
»Ach Mutter! Mutter traurig, Oliver böse, Oliver krank, Mutter traurig, oje!«
Ein Kreislauf.
Oliver ist 45 Jahre alt, körperlich und geistig schwerstbehindert. Er kann gehen, ohne Hilfe essen und sich mit einem sehr kleinen Wortschatz verständlich machen. Er braucht Hilfe beim Duschen und Anziehen, das Essen muss für ihn gemacht werden, alle Dinge des Alltags müssen für ihn geregelt werden. Er lebt seit seinem 5. Lebensjahr in einer anthroposophischen Dorfgemeinschaft für behinderte Menschen am Bodensee und fühlt sich dort wohl. Aber er kommt auch sehr gern an den Wochenenden und in den Ferien ins nur wenige Kilometer entfernte Elternhaus.
Unsere Mutter kümmert sich um Olivers Finanzen, Versicherungen, um seine zahlreichen Arztbesuche, seine Hörgeräte, Brille, einfach um alles.
Meine Eltern wagten es, nach der Geburt meines Bruders und seinem zweijährigen Überlebenskampf auf der Intensivstation, noch einmal schwanger zu werden. Nun gab es den behinderten Sohn und den gesunden Sohn; der eine bekam mehr Fürsorge, der andere alle Chancen, sich zu entfalten.
Und als die Enkel auf die Welt kamen, waren die Großeltern schwer verliebt. Sie besuchen uns oft in Mainz. Meine Frau und ich sind beruflich viel unterwegs, der Alltag mit zwei Kindern, den Berufen und dem Haushalt ist eng gestrickt. Da kann die Betreuung durch KiTa, Schule, Hort, Babysitter noch so gut geplant sein: Die Großeltern reisen an, wenn es brennt.
Die Ehe und Aufgabenteilung meiner Eltern war klassisch: Er ging arbeiten, sie kümmerte sich um die Kinder, den Haushalt, den Alltag. Sie managte die Familie, führte den Kalender, besorgte die Geburtstagsgeschenke. Sie kamen immer gut zurecht, auch später als Rentner.
Dann veränderte sich alles.
Winter
»Geh’ zum Arzt, Mama, geh’ endlich zum Arzt!«
»Jaja, wie oft wollt ihr mir das noch sagen, ich gehe schon
noch zum Arzt …«
Sie geht nicht. Mit meinem Bruder schon, seine Gesundheit ist ihr wichtig. Mich bittet sie auch, bei jedem Schnupfen zum Arzt zu gehen, meinen Vater erst recht. Und sie selbst? »Ich nehme Aspirin, hilft immer. Oder die Magentröpfchen, die sind homöopathisch.«
Seit ein paar Jahren hat sie jeden Morgen rasselnden Husten. »Nach einem heißen schwarzen Kaffee wird’s besser!«
Und wenn sie turnusmäßig zum Zahnarzt muss oder zum Check-up beim Hausarzt, dann vertraut sie blind, sie hinterfragt und widerspricht nicht – Ärzte sind für sie Götter in Weiß.
Im Januar 2017 besuchen uns meine Eltern für ein paar Tage im Skiurlaub. Sie möchten mit den Enkeln spielen, Schneemänner bauen, Schlitten fahren und ihnen bei den ersten Skirennen zujubeln. Doch meine Mutter hustet und friert, sie ist grau im Gesicht und schwach, sie kommt den Kindern nicht mehr hinterher, den kurzen Fußweg von der Gondelstation zum Hotel schafft sie nicht.
»Das geht jetzt schon seit ein paar Wochen so«, sagt mein Vater, »immer ist sie am Husten und Röcheln, aber zum Arzt will sie ja nicht.«
»Ach, Robert! Als ob du je zum Arzt gehen würdest!« So geht es hin und her. Die ehelichen Scharmützel: wer ist schlimmer, wer geht noch weniger zum Arzt, wer ist noch unverantwortlicher mit der eigenen Gesundheit. Wir nehmen ihr das Versprechen ab, sich zuhause sofort untersuchen zu lassen.
»Jaja …«
Ihren Hausarzt kann sie nicht leiden, sie fühlt sich von ihm nicht ernst genommen, »immer fertigt er mich so schnell ab« – sie bleibt trotzdem bei ihm. Er verabreicht ihr eine Infusion zur Stärkung und überweist sie dann in eine Röntgen-Praxis. Die Aufnahme zeigt eine Lungenentzündung und eine milchglasartige Vertrübung der Lunge. Ratlosigkeit. Antibiotika.
»Wird schon helfen …«
Ab Mitte Februar wird meine Mutter immer dünner, immer schwächer. Im März fährt sie mit meinem Vater und meinem Bruder nach Freiburg in die Augenklinik. Olivers blindes linkes Auge hat sich entzündet und schmerzt. Die Ärzte befürchten, dass sich die Entzündung auf das gesunde Auge übertragen könnte und empfehlen deswegen, das kranke Auge zu entfernen und ein Glasauge einzusetzen.
Meine Eltern rufen mich an:
»Der Oliver reibt sich doch ständig mit den Fingern in den
Augen rum – wie soll er mit einem Glasauge klarkommen?!« »Und schafft ihr das überhaupt? Mama, du bist doch so
schlapp!«
»Doch, doch, das schaffe ich schon …«
Nach dem Klinikbesuch wollen sie sich noch Freiburg anschauen. Doch mein Vater muss nicht nur meinen immer leicht taumelnden Bruder, sondern vor allem meine Mutter stützen. Den knappen Kilometer von der Altstadt zur Pension bewältigt sie nur mit Mühe.
»Ach, Mama so müde! Ach, Mama geht nicht mehr!«, sagt Oliver.
Zurück zuhause muss sie wieder zum Arzt. Die Antibiotika haben nichts verbessert. Wieder Röntgen: Das Milchglas ist noch trüber geworden. Endlich wird sie an einen Lungenfacharzt überwiesen.
Als der meine Mutter sieht und ihren Husten hört, stellt er die von so vielen Ärzten vor und nach ihm immer wieder gestellte Frage: »Haben Sie geraucht?«
»Nein.«
»Oh.«
Er sieht, dass etwas nicht stimmt mit dieser Lunge – was es ist, weiß er auch nicht. Er überweist meine Mutter ins Lungenzentrum des Klinikums Konstanz.
Ich schaffe es in dieser Anfangsphase nur einmal, mit der Familie von Mainz an den Bodensee zu fahren und sehe meine kleine, dünne, plötzlich alt gewordene Mutter; sie kann nicht mehr mit der Enkeltochter spielen, sie geht nicht mehr mit dem Enkelsohn zum Brötchenholen. Sie ist schwach und kann das nicht mehr verbergen. Ich habe Angst um sie.
Jetzt telefoniere ich fast täglich mit meinem Vater. »Claudio, die Mama versucht immer noch das Bad zu putzen, dabei hustet und röchelt sie nur noch. Wahrscheinlich kommt der Husten und die schlechte Lunge von den Putzmitteldämpfen!«
Also putzt er das Bad. Sie sitzt daneben, flucht und ist unzufrieden mit seiner Arbeit.
Er ist 77 und muss jetzt auf einmal den Einkauf erledigen; herausfinden, wo alles steht im Supermarkt, immer in Eile, immer in Angst, dass seine Frau allein zuhause zusammenbricht oder stürzt, beim Versuch, die Wäsche aufzuhängen. Er muss lernen, die Waschmaschine zu bedienen, die richtigen Putzmittel zu verwenden, die Betten zu beziehen.
Meine Mutter am Telefon: »Nein, geht schon, alles gar nicht so schlimm, der Papa übertreibt, der Papa ist total unruhig und nervös, möchte mich gar nicht mehr allein lassen, unmöglich, der Mann!« Sie sind seit 54 Jahren verheiratet.
Frühling
»Claudio, was passiert mit mir, was machen die mit mir?!«, fragt meine Mutter.
»Die machen mir meine Frau kaputt!«, flucht mein Vater.
Sie kommt ins Krankenhaus zur Bronchoskopie, einer Lungenspiegelung – das wichtigste Diagnoseverfahren bei Verdacht auf Lungenkrebs. Dabei wird Gewebe entnommen und eine Lungenspülung durchgeführt.
Die Bronchoskopie ist eine risikoarme, wenn auch nicht vollkommen risikofreie Diagnosemethode. Sehr selten werden bei der Probenentnahme Lungenbläschen verletzt, was zu einem Pneumothorax, dem Kollabieren der Lunge führen kann.
Genau das passiert bei meiner Mutter.
Sie bekommt keine Luft mehr, Sauerstoffbeatmung wird nötig, eine Thorax-Drainage gelegt, die so lange liegen bleiben soll, bis sich die Lunge wieder vollständig entfaltet und funktionstüchtig ist. Bei jüngeren Patienten geht das schnell. Doch meine Mutter ist nicht jung, ihre Lunge ist krank und fragil.
Ich fahre von einer Klinik, in der unser Sohn zufällig zeitgleich eine kleine Operation hat, 400 Kilometer in die nächste Klinik. Meine Mutter hat Schmerzen, die Drainage quält sie und sie ist verzweifelt. Die Bronchoskopie hat außer Komplikationen wenig ergeben. »Kein Krebs!«, heißt es – aber was es ist, diese milchglasige Vertrübung, ist völlig unklar. Meine Mutter beginnt, ihr Urvertrauen in Ärzte zu verlieren.
Sie bleibt auf der Intensivstation. Für den Donnerstag vor Ostern setzen die Ärzte eine Ultraschalluntersuchung des Magens und eine Darmspiegelung an, sie vermuteten Schlimmeres als nur eine Lungenerkrankung. Meine Frau fährt mit den Kindern schon vor an den Bodensee, zu meinem Vater. Ich muss noch arbeiten.
Am späten Abend bekomme ich einen Anruf aus der Klinik: »Ihre Mutter ist in akuter Lebensgefahr!« Bei der Spiegelung wurde die Darmwand perforiert, also verletzt. So schwer, dass in der Nacht sofort notoperiert wird, das Loch in der Darmwand muss geschlossen werden – Ausgang der Operation ungewiss. Ich gerate in Panik. Was mache ich jetzt?! Ich bin zu aufgebracht und gleichzeitig zu müde für eine stundenlange Nachtfahrt. Ich setze mich hin und warte.
Mein Vater, zuhause mit meiner Frau und den Kindern, ist außer sich, er kann die Situation nicht einordnen. Er schimpft auf die Ärzte: »Zwei Komplikationen bei zwei Routine-Eingriffen innerhalb einer Woche!«
Morgens um fünf ruft mich die Klinik an: »Ihre Mutter hat die Operation überlebt!« Ich fahre sofort los.
Wie würde meine Mutter aussehen, wie reagieren, kann sie überhaupt reagieren?
Im Hegau, kurz vorm Bodensee, teilt sich die Straße; die eine Strecke führt Richtung Obersee, die andere nach Konstanz. Immer bin ich Richtung Obersee gefahren, nach Hause zu meinen Eltern. Jetzt nehme ich zum ersten Mal die Ausfahrt Richtung Konstanz und weiß, dass es nicht das letzte Mal sein wird. Oder doch? Ich kann nicht mehr und muss anhalten – kurz innehalten, durchatmen.
Sie sieht schrecklich aus, überall Schläuche, die Haare zerrupft. Das ist für sie das Schlimmste.
»Claudio, ich sehe furchtbar aus.«
»Nein, Mama.«
»Wo kommst du überhaupt so plötzlich her?«
»Aus Mainz, ich bin heute Morgen sofort losgefahren.« »Meinetwegen? Aber das hättest du doch nicht machen müs-
sen, du hast doch so viel zu tun.«
Meine Frau und ich werden zu einem Termin beim Chefarzt und Leiter des Lungenzentrums gebeten, Professor Rehfeld (Name geändert). Natürlich sind wir misstrauisch und voller Angst und Skepsis. Doch wir treffen auf einen jungen Arzt, der offen mit den Fehlern umgeht. Rehfeld erklärt uns, was passiert ist und was jetzt unternommen wird. Und sagt, dass von nun an er als Chefarzt persönlich für meine Mutter zuständig ist. Natürlich geht es ihm auch um den Ruf der Klinik.
Für meine Eltern wird er zum wichtigsten Ansprechpartner der kommenden Monate, zum »Hoffnungsträger«. Rehfeld spricht meiner Mutter Mut zu, tröstet sie, sagt ihr, wie schlecht es um sie steht, bittet sie, Geduld zu haben, durchzuhalten. Er wird ihr neuer Gott in Weiß, sie wartet immer auf ihn, seine Visiten, seine Aussagen. Sie mag ihn gern. Weil er ehrlich zu ihr ist, weil er sie als Mensch ernst nimmt und sie nicht nur als Patientin sieht.
Ostern feiern wir bei meinem Vater. Mit meinem Bruder – aber zum ersten Mal ohne unsere Mutter. Die Kinder dürfen und wollen wir nicht mit in die Intensivstation nehmen. Unsere Tochter, drei Jahre alt, ist enttäuscht, unser Sohn, sieben Jahre alt, ist erleichtert. Wir sagen den Kindern, dass sie die Oma besuchen dürfen, wenn es ihr besser geht.
Mit meinem Bruder fahre ich am Ostersonntag nach Konstanz.
»Oh je, oh nein, Krankenhaus! Oh je oh nein, oh nein!«
Oliver hat in seinem Leben sehr viel Zeit in Krankenhäusern verbracht, er hat ein Ärzte-Trauma und bis heute Angst vor Menschen, die weiße Kittel tragen. Er krallt sich an meinem Arm fest, als wir in die Klinik gehen. Und fängt sofort an zu weinen, als er unsere Mutter sieht.
»Ach Mama, ach Mama, ach Mama! Mama so krank, Mama Krankenhaus, oh nein!«
»Ja, Oliver.«
»Mama wieder gesund? Alles wieder gut, alles wieder gut, alles wieder gut?!«
»Ja, Oliver, ganz bestimmt.«
Er legte sich zu ihr ins Krankenbett und kuschelt sich an sie. Er weint.
»Mama, ich kümmere mich um Oliver.« Sie nickt. Und gibt mir Olivers EC-Karte aus ihrem Geldbeutel. Mama erklärt mir, wo Olivers wichtigste Unterlagen liegen, Krankenkasse, Konten, Kindergeld, finanzielle Hilfen für Behinderte, Behindertenausweis; und ihr Betreuerausweis. Ich sage ihr, dass ich beim Landgericht einen Betreuerwechsel beantrage, dass ich sein Betreuer werde. Sie nickt wieder.
»Schaffst du das denn?«
»Keine Ahnung.«
Ich stelle den Antrag und bin seitdem für alles zuständig, was
meinen Bruder betrifft. Jedes Medikament, jede Therapie, jeden Arztbesuch, jeden Ausflug muss ich genehmigen. Er lebt aber weiterhin in der Dorfgemeinschaft für Behinderte, in einem Haus mit zehn Behinderten und drei Betreuern, die sich um seinen Alltag dort kümmern. Die Leiterin des Hauses – sie wird Hausmutter genannt – ist pragmatisch, zupackend und sehr liebevoll mit Oliver. Sie ist es auch, die im Jahr 2017 immer wieder mit ihm losfährt, um unsere Mutter zu besuchen.
Zwei Wochen lang bleibt meine Mutter auf der Intensivstation, ihre Lunge erholt sich kaum vom Pneumothorax, immer noch bekommt sie zusätzlichen Sauerstoff; und sie wird künstlich ernährt, der operierte Darm ist auch noch nicht belastbar. Mein Vater fährt jeden Morgen mit dem Auto und der Autofähre nach Konstanz, bleibt den Tag über bei ihr, fährt abends zurück. Die kurze Fährfahrt über den Bodensee wird zur täglichen Erinnerungs-Viertelstunde. Aussicht auf die Alpen, auf die Insel Mainau, auf die Freibäder. »Wie oft waren wir da überall!«
Er ist überanstrengt. Nachbarn und Freunde, die meine Mutter besuchen möchten, bittet er, ein andermal zu kommen. Es sei jetzt zu viel für sie. Doch so ist es nicht, sie würde sich freuen. Es ist eher zu viel für ihn.
Nach der Intensivstation wird sie in ein Drei-Bett-Zimmer verlegt. Zuerst hat sie Angst vor den Fremden, doch dann freut sie sich, plaudert mit den Zimmergenossinnen, sie tuscheln über die Tätowierungen und Angewohnheiten des Pflegepersonals, erzählen sich von ihren Krankheiten. Am ersten Wochenende besuchen wir sie mit den Kindern. Unsere Tochter war noch nie in einem Krankenhaus, sie ist etwas eingeschüchtert, doch nur eine Minute, dann kuschelt sie mit ihrer Oma – und die weint vor Freude. Unser Sohn ist still und zurückhaltend. »Wird die Oma denn wieder gesund?«, fragt er später.
Ich maile und telefoniere viel mit Professor Rehfeld. Es gibt immer noch keine Diagnose, Krebs ist nicht zu finden, weder in der Lunge noch im Magendarm-Bereich. Die Befunde der Bronchoskopie werden auch an eine andere Lungenfachklinik geschickt zur Überprüfung. Kein Ergebnis. Es wird eine seltene ImmunErkrankung vermutet.
Professor Rehfeld empfiehlt und organisiert eine dreiwöchige Reha-Maßnahme für meine Mutter, in einer auf Pneumologie spezialisierten Rehabilitations-Klinik am Königssee im Berchtesgadener Land; in der Hoffnung, dass sie gestärkt zurückkommt. Da sie aber immer noch extrem dünn, schwach und psychisch labil ist, fragt er mich, ob ich sie dorthin bringen könne. Für meinen Vater ist die Autofahrt zu lang.
Von Mainz an den Bodensee. Ich hole erst meinen Vater ab, dann meine Mutter im Krankenhaus, die schon mit gepacktem Koffer aufgeregt wartet, klapprig, aber hoffnungsvoll. Wir bekommen noch ein Sauerstoffgerät mit, falls ihr unterwegs die Luft ausgeht. Mir kommt es vor wie ein surreales Roadmovie:
Vom Bodensee an den Königssee. Wie oft sind meine Eltern mit mir als Kind in die Berge gefahren, um die 3000er zu besteigen. Jetzt sitzt meine Mutter neben mir auf dem Beifahrersitz, 40 Kilo leicht, röchelnd – aber sie lächelt.
Wir bringen sie auf ihr Zimmer, es ist hell und geräumig; aber jetzt lächelt sie nicht mehr.
»Ach Claudio, ach Robert, so ein Mist!«
Es sind eben keine Ferien. Wie soll sie das hier allein schaffen? Sie war noch nie irgendwo allein. Die ganzen Anwendungen, Therapien, Übungen, sie kommt in dem großen Gebäude nicht zurecht, findet den Weg in die Kantine nicht – und ist auch viel zu schwach, ihn ohne Hilfe zu gehen. Sie weint. Mein Vater verspricht, bei ihr zu bleiben.
Er plant eine Woche, dann verlängert er auf zwei Wochen. Ich weiß, dass auch er am Ende ist. Wir telefonieren: »Papa, geh ein bisschen wandern am Königssee, atme auch du mal diese frische Luft dort!« Aber er wandert nicht, sondern verbringt jeden Tag bei seiner Frau. Sie kommt im Reha-Alltag nicht klar. Sie kann nicht essen. Im Speisesaal sitzt sie eine Stunde vor einem Teller Suppe. Als sie sich einmal auf der Terrasse sonnen will, stürzt sie und schlägt sich die Stirn und den Arm blutig.
Mein Vater ruft mich an: »Claudio, die Mama schafft das hier nicht.«
Im Hintergrund schimpft meine Mutter: »Doch, Robert, ich schaff das! Du fährst jetzt nachhause! Die letzte Woche bleibe ich hier allein!«
Nach drei Wochen Reha hole ich meine Mutter ab, die ganze Tour retour. Als sie bei mir im Auto sitzt und wir durchs Allgäu fahren, ist sie einfach nur glücklich. Erleichtert und glücklich, dass sie jetzt endlich nach Hause darf, mit ihrem Sohn. Wir plaudern, sie will wissen, wie es im Job läuft, was es in der Nachbarschaft Neues gibt. Ich erzähle – sie lächelt und schläft ein.
Zuhause fühlt sie sich besser und ist voller Hoffnung. Es ist Juni. Sie wäscht sich selbst, zieht sich allein an und bewältigt die Treppen im Haus. Jede Stufe ist ein Kampf, aber sie will sich auf keinen Fall helfen lassen. Mein Vater hat ihr im Treppenhaus einen Hocker hingestellt, als Zwischenstation. Da sitzt sie dann, flucht und schimpft und weiter geht’s. Essen kann sie immer noch nicht – mein Vater kocht ihr immer ihre Lieblingsspeisen –, doch sie hat einfach keinen Hunger und es schmeckt ihr auch nichts mehr. Durch Professor Rehfeld aber hat sie etwas kennengelernt, das ihr hilft: Fresubin, hochkalorische Flüssignahrung in Flaschen. »Der Professor trinkt das auch, wenn er keine Zeit fürs Mittagessen hat – stell dir das mal vor!« Es wird ihr Hauptnahrungsmittel.
Jeden Tag bringt mein Vater sie auf die Terrasse, dort sitzt sie in der Sonne, bekommt viel Besuch. Wir reisen am Wochenende mit den Kindern an und reservieren einen Tisch in ihrem Lieblingsrestaurant direkt am Bodensee. Sie macht sich schick, schminkt sich, trägt Schmuck – und auch wenn sie natürlich nichts isst, wird es ein schöner Abend am See. Es ist warm, man kann noch draußen sitzen, die Kinder toben rum, die Sonne geht über dem See unter. »Wie früher!«, sagt sie.
Dann sind wir wieder weg. Sie sitzt zuhause auf dem Sofa und schweigt, stundenlang.
»Du Robert, was ist, wenn ich sterbe? Wenn ich viel früher sterbe, vor dir sterbe. Was machen wir dann?«
Mein Vater will davon nichts hören.
»Positiv denken, es gibt Hoffnung!«, sagt er zu ihr.
Zu uns sagt er am Telefon: »Bei mir dreht sich alles im Kopf.« Die neuen Aufgaben im Haushalt und Alltag, der ständige Be-
such für meine Mutter, der bewirtet werden muss. Und meine Mutter will natürlich, dass es schön und sauber ist im Haus, wie immer. Sie schimpft mit ihm, wenn er es nicht ordentlich macht.
»Ihr braucht eine Putzhilfe, dringend! Wir haben euch auch schon jemand organisiert, ihr müsst nur noch ja sagen.«
Aber sie sagen nein. Sie möchten nicht, dass jemand im Haus rumwuselt, den sie nicht kennen. »Außerdem kostet das Geld! Und wir schaffen das doch alles noch selbst!«
Wie oft waren wir in dieser Zeit am Wochenende bei meinen Eltern, haben Großeinkäufe gemacht und alles organisiert, meine Frau hat das ganze Haus von oben bis unten gesäubert, Bäder und Küche geschrubbt, Wäsche gewaschen, Betten gewechselt und: die Stimmung hoch gehalten …
Sommer
Ende Juni, nach einem Monat zuhause, naht der erste Kontrolltermin im Krankenhaus seit der Reha. Hoffen und Bangen, meine Mutter kann die CT kaum erwarten: »Wie wird die Lunge wohl aussehen?«
Sie sieht deutlich schlechter aus als vorher, die Milchglasverfärbung ist stärker und dunkler geworden. Sofort werden Tests gemacht, großes Blutbild, Prüfungen von Immunologen und Rheumatologen. Wieder langes, angstvolles Warten. Wieder kein Ergebnis.
Diese verdammte Ungewissheit seit Monaten! Nichts hilft, keine Reha, kein Cortison, nichts. Alle sind zermürbt, alle sind hilf los.
Professor Rehfeld sitzt bei meiner Mutter. »Ich kann Sie nicht behandeln, wenn ich nicht weiß, was Sie haben.« Er empfiehlt dringend eine erneute Bronchoskopie. »Ich werde sie selbst durchführen! Und – wenn Sie es erlauben – vorsichtig kleine Biopsien mit der Zange machen, ich brauche Gewebe aus der Lunge für eine Diagnose.«
Wieder kommt es zu einem Pneumothorax, die Lunge ist einfach zu fragil. Wieder Intensivstation. Doch das Ergebnis der Gewebeentnahme ist diesmal eindeutig: Ein besonders heimtückischer und schwerer Lungenkrebs, der vorher wohl weder auf den Bildern noch in den Proben zu erkennen und beweisen war – Adenokarzinom der Lunge mit lepidischem Wachstumsmuster.
Das ist die Diagnose. Meine Mutter fühlt sich fast erleichtert, endlich zu wissen, was los ist. Wir nicht.
Professor Rehfeld stellt die Frage: »Überlassen wir dem Krebs den Sieg und stellen Sie medikamentös so ein, dass Sie die nächsten Monate ohne Schmerzen überstehen und vielleicht noch genießen können? Oder nehmen wir, nehmen Sie den Kampf auf? Harte Chemotherapie mit allen bekannten Nebenwirkungen – in diesem Alter und gesundheitlichem Zustand besonders hart!«
Die Antwort: »Ich kämpfe!«
Ich unterschreibe gemeinsam mit meiner Mutter den Aufklärungsbogen und die Einwilligung zur Chemotherapie bei Krebserkrankungen.
Dann schweigen wir. Meine Mutter spricht mit mir ohnehin nicht gern über ihre Gefühle. Von mir will sie ständig wissen, wie es mir geht. Aber auch ich rede mit ihr nicht über meine Ängste und Wünsche. Wir plaudern lieber – was so in ihrem Leben passiert, welche Künstler ich auf meinen Drehreisen treffe, was die Kinder so machen.
Aus dem Fenster des ruhigen Einzelzimmers, in dem sie jetzt liegt, sieht man den Bodensee. Die Sonne scheint, Baumschatten bewegen sich an der Wand. Es ist eine schöne Stimmung. Dann fängt sie an:
»Bei der letzten Beerdigung, da haben die Angehörigen so einen Redner bestellt, der hat die Grabrede gehalten, der konnte das.«
»Aber Mama! Du beginnst jetzt die Chemo, du stirbst erst mal nicht.«
»Und wenn doch?«
»Wenn du stirbst, soll ich dann nicht die Grabrede halten?« »Das würdest du tun?«
»Ja!«
»Dann wünsche ich mir, dass du das machst und auch meine
Biographie erzählst, die ganze Geschichte, im Krieg geboren, die Trümmer, dann später die Geburt deines Bruders und so, die Krankenhausgeschichte. Weißt du das auch alles?«
»Ja, natürlich weiß ich das, Mama.« Wir weinen beide.
»Ich habe Angst.«
»Ich weiß«, sagt sie.
Dann muss ich schon wieder los, ich habe Termine in Zürich. Ich laufe bei schönstem Sommerwetter am Bodensee entlang, über die Rheinbrücke zum Konstanzer Bahnhof. Immer dieses Aufatmen beim Verlassen des Krankenhauses – bloß weg aus dieser bedrückenden Umgebung und Situation! Die Erleichterung währt nur kurz, sofort meldet sich das Gewissen. Mache ich zu wenig für meine Eltern? Müsste ich noch öfter und länger bei ihnen sein, mehr mit meiner Mutter reden, meinen Vater entlasten?
Meine Frau und ich beschließen, den gebuchten Sommerurlaub an der Nordsee zu stornieren und fahren stattdessen mit den Kindern zu meiner Mutter.
Sie schickt uns direkt wieder weg.
»Ich will, dass ihr in die Ferien fahrt! Sagt sofort wieder zu! Ihr braucht Erholung und ich will nicht, dass ihr hier bei mir rumsitzt!«
Also sagen wir wieder zu und fahren los und es tut uns gut. Zwei Wochen Pause.
Von der Nordsee wieder an den Bodensee. Meine Mutter ist zuhause, sie muss nur zur Chemo-Therapie in die Klinik, aber sie leidet Tag und Nacht, hat Schmerzen, übergibt sich, verliert die Haare, zweifelt und verzweifelt. Es gibt Tage, an denen sie nur gekrümmt auf dem Sofa hängt und ächzt und nur einen winzigen Schluck ihrer Astronautennahrung zu sich nimmt und sofort wieder ausspuckt. Aber es gibt auch Tage, an denen sie lacht und Kuchen isst, an denen die Kinder bei ihr sitzen und mit ihr spielen, obwohl sie so anders aussieht und so komisch riecht, die Oma.
Herbst
Am 20. September bittet Professor Rehfeld meine Eltern in sein Büro. Kurz vorher fand eine Kontrolle mittels CT-Thorax statt, um den Zustand der Lunge und die Wirkung der Therapie nach dem dritten Chemo-Zyklus zu überprüfen. Er hat Ergebnisse.
»Herr Professor, wie lange lebe ich noch?«
Rehfeld nimmt die Hände meiner Mutter in seine: »Frau Armbruster, noch wenige Wochen.«
Die Chemo hat nicht geholfen. Der Krebs unheilbar. Austherapiert.
Ich bin im Schwimmbad, als mein Vater mich anruft: »Die Mama muss sterben.« Wir weinen am Telefon. Dann spreche ich kurz mit meiner Mutter. Sie sagt nur: »Ach, Claudio, so ein Mist!«
Rehfeld sorgt dafür, dass sie ein Zimmer in der Palliativ-Station des Krankenhauses bekommt. Ein Einzelzimmer, ruhig, ohne das übliche Gewusel von Pflegepersonal, Reinigungskräften, Ärzten und Besuchern, das in Krankenhäusern herrscht. Ruhe – Endstation Palliativ. Aber Ruhe ist nicht das, was meine Mutter jetzt will. Und erst recht nicht ein Zimmer zum Sterben.
Krebspatienten werden nicht nur von Ärzten und Pflegekräften betreut, sondern auch von Psychoonkologen. Sie begleiten und unterstützen den Patienten im Verlauf seiner Krankheit und helfen bei der Krankheitsverarbeitung. Auf den Krebsstationen sind sie oft die wichtigsten Ansprechpartner für die Patienten und deren Angehörige. So auch für meine Mutter. Frau Tiefensee (Name geändert ) ist eine starke, warmherzige und einfühlsame Frau – meine Mutter schließt sie sofort in ihr Herz. Schon während der Chemo besucht Frau Tiefensee sie fast täglich. Die Gespräche geben meiner Mutter Kraft und Trost. Nicht nur meiner Mutter – auch mir. Ich telefoniere in den kommenden Monaten regelmäßig mit ihr. Sie erzählt mir von den Ängsten, Gedanken und Gefühlen meiner Mutter. Und andersrum. Frau Tiefensee ist unsere »Seelen-Sorgerin«.
Ich bleibe in meiner Rolle des Organisators, ich regle, manage und vermittle für meine Mutter. Aber ich spreche nicht wirklich mit ihr und sie nicht mit mir. Wir plaudern wieder bloß, als ginge es einfach immer so weiter. Aber sie möchte reden. Als sie im Palliativ-Zimmer liegt, sagt sie zu mir: »Frau Tiefensee hat so schöne, warme braune Augen – ich würde sie gerne sehen.« Ich rufe sie an, sie kommt so schnell sie kann.
»Frau Armbruster, was wünschen Sie sich? Was ist jetzt, in diesem Moment, in dieser Situation Ihr größter Wunsch?«
»Ich wünsche mir, endlich mal wieder selbst entscheiden zu dürfen. Das ganze Jahr war ich fremdbestimmt. Mir wurde gesagt, was mit mir passieren wird, ich wurde von einem Ort zum nächsten geschickt, zu Ärzten, ins Krankenhaus, in die Intensivstation, in die Rehaklinik, in die Onkologie, jetzt in die Palliativ-Abteilung – ich muss sterben, ich will ab jetzt wieder selbst entscheiden.«
Und so beschließt sie, gemeinsam mit ihrem Mann, ihre verbleibende Lebenszeit zuhause zu verbringen. »Ich bin bei dir, bis du stirbst und wenn du stirbst«, sagt mein Vater.
Der Krankenwagen hält vor der Tür – endlich wieder zuhause! Das ist jetzt das Wichtigste. Und zuhause soll es schön sein. Der Tisch schön gedeckt, obwohl sie nichts mehr essen kann. Die Fenster sollten geputzt sein, das Haus sauber, frische Blumen auf dem Tisch – mein Vater sorgt dafür. Es ist unendlich wichtig für sie, dass es zuhause so ist wie immer: sauber, behaglich und schön. Die Form soll gewahrt werden! Und damit ihr Stolz und ihre Würde.
Im Krankenhaus wird meinem Vater die Medikation meiner Mutter erklärt und ihm der komplizierte Plan in der gut gefüllten Medikamenten-Kiste mitgegeben. Er führt säuberlich Kalender, wann sie welches Mittel nehmen muss; und wird zum Krankenpfleger. Anfangs schläft meine Mutter noch bei ihm im Ehebett. Das viel zu laut arbeitende Sauerstoffgerät verbannt er in ein Nebenzimmer und legt eine lange Sauerstoffleitung bis ins Schlafzimmer. Drei bis vier Mal pro Nacht begleitet er sie zur Toilette. Hilft ihr morgens im Bad, begleitet sie die Treppe hinunter ins Esszimmer. Die Treppe wird zum Angstgegner, sie braucht bis zu einer halben Stunde für die paar Stufen. Immer hat sie ihre Spucktüte bei sich, die Nebenwirkungen der Chemotherapie dauern noch Wochen lang an. Zum Frühstück isst sie höchstens ein winziges Stückchen Weißbrot und starrt den Rest der Zeit verzagt auf ihren Teller. Dann bringt mein Vater sie ins Wohnzimmer, aufs Sofa, wo sie schläft oder einfach nur dasitzt. Bücher und Zeitung lesen oder Fernsehen, Nachrichten schauen, das war ihr früher so wichtig, informiert zu sein – jetzt ist es ihr zu mühsam. Über Besuch der Nachbarn und Freunde freut sie sich dagegen sehr. Für meinen Vater ist jeder Besuch eine Anstrengung mehr. Ihm ist nicht mehr nach Plaudern. Meistens nutzt er die Zeit, um sich selbst mal zu pflegen, endlich zu duschen oder sich zu rasieren. Oder er fährt in die Stadt, um die Einkäufe zu erledigen, neue Medikamente zu besorgen. Immer in Eile, immer in Sorge.
Wir sind so oft da, wie wir können, und helfen, wo wir können. Aber wir sehen, dass es nicht so weitergeht. Mein Vater zittert. Er droht zusammenzubrechen unter dem Arbeitspensum, der Verantwortung und der nervlichen Belastung.
Der Wunsch meiner Mutter nach Selbstbestimmung – für meinen Vater bedeutet das: Selbstaufgabe.
Die beiden brauchen Hilfe von außen – die sie aber nicht wollen. Das wird der große Konflikt. Zunächst zwischen meinen Eltern und uns. Wir müssen lange diskutieren, bevor sie erlauben, dass eine Putzhilfe ins Haus kommt. Meine Mutter beobachtet sie murrend und mit Argusaugen: »Ach, die kann das nicht, die sieht den Schmutz nicht …«
So geht es weiter. Bald schafft sie es nicht mehr, schnell genug zur Toilette zu kommen – aber sie möchte keinen mobilen Toilettenstuhl haben. Ich besorge ihn gegen ihren Willen. Sie flucht, braucht ihn aber. Körperpflege durch die Krankenschwestern der Sozialstation lehnt sie ab, obwohl sie die Sozialstation bestens kennt und mag; ich hatte dort als Zivildienstleistender gearbeitet, sie als Nachbarschaftshilfe. Aber zuhause haben möchte sie die Krankenschwestern nicht.
Doch dann kommt meine Mutter plötzlich nicht mehr von der Stelle; es ist nur ein Schritt vom Sofa zum Toilettenstuhl, aber sie spürt, dass sie ihn nicht mehr schaffen wird.
Das Krankenbett lasse ich ins Wohnzimmer stellen, mit Blick in den Garten. Die Sozialstation kommt. Erst einmal die Woche, dann zweimal, dann täglich, dann drei Mal täglich. Sie empfindet das als Zumutung. »Warum kann das nicht der Robert machen?!«, keift sie.
Dankbarkeit gibt es nicht. Der Mensch, der ihr am nächsten ist, den sie liebt, der sich rund um die Uhr um sie kümmert, den beschimpft sie. Nichts kann mein Vater ihr recht machen, bei jeder Berührung schreit sie auf. Und bei wem soll sie es auch sonst rauslassen, all die Schmerzen, die Angst, die Verzweiflung und Aggressivität? Mein Vater bekommt alles ab. Manchmal merkt sie es und weint und schüttelt den Kopf: »Es ist doch alles eine Riesenscheiße! Ach, Robert …«
»Claudio, ich funktioniere nur noch. Wie ein Roboter. Tagein, tagaus.«
Mein Vater weiß, dass er jetzt selbst Unterstützung braucht.
Er schläft kaum noch, immer hört er auf den rasselnden flachen Atem seiner Frau. Längst legt er sich nicht mehr in sein Bett, sondern ins Wohnzimmer, neben das Krankenbett. Um ihren Schlaf zu bewachen.
»Wenn sie stirbt, muss ich bei ihr sein!«, sagt er, »die Uschi soll in meinen Armen sterben.«
Wir versuchen ihm zu erklären, dass das zu viel ist! Dass er das nicht leisten kann, rund um die Uhr bei ihr zu sitzen.
Ich führe Gespräche mit der Leiterin eines nahegelegenen Hospizes. Ein Zimmer ist frei. Ich getraue mich kaum, es meinen Eltern zu sagen. Und sie lehnen es auch sofort empört ab. Gestorben wird zuhause.
Immerhin lassen meine Eltern zu, dass jetzt zusätzlich zur Sozialstation Palliativpfleger und -ärzte kommen und sich um die Medikation kümmern. Und zuletzt auch Helfer einer ambulanten Hospizgruppe, die meiner Mutter vorlesen, ihr etwas erzählen oder einfach nur zwei Stunden bei ihr sitzen. Das mag sie, andere Menschen zu sehen und zu hören, so kommt Leben ins Haus. Die ständige Nähe meines Vaters, sein dauerndes Kümmern, seine Sorge, nehmen ihr die Luft zum Atmen. »Robert, geh jetzt raus!«
Also geht er raus. Seit Wochen hat er keinen Spaziergang mehr gemacht, keine frische Luft gehabt. Kurz durchatmen.
Er muss reden, seinen Kummer loswerden – und findet dafür Schwester Nina von der Sozialstation. Sie hört ihm zu, sie gibt ihm Ratschläge und tröstet ihn. Wenn sie meine Mutter pflegt, singt sie ihr dabei vor. Bevor sie geht, streichelt sie ihr lange über den Kopf. Mein Vater nennt sie »unseren Engel«.
Meine Mutter wird immer kleiner, immer dünner, immer weniger. Wie Sand in einer Sanduhr.
Wir entscheiden, unsere Kinder nicht mehr mit zur Oma zu nehmen. Sie kann kaum noch sprechen, die Spucke läuft ihr aus dem Mund, wie ein Häuflein Elend liegt sie zusammengekrümmt auf dem Sofa, nicht mehr im Stande, sich aufrecht zu halten. Für die Kinder ein erschreckender Anblick. Sie haben den Krankheitsverlauf von Beginn an miterlebt, wir haben ihnen auch immer alles erzählt, versucht zu erklären. Doch nun wird es zu schlimm.
Immer wieder fällt sie in komaähnliche Zustände, rührt sich nicht mehr, reagiert nicht mehr, stundenlang. Mein Vater gibt ihr Morphium-Spritzen gegen die Schmerzen.
Meine Mutter nennt mich nicht mehr Claudio, sondern spricht mich mit den Kosenamen an, die sie mir als Kleinkind gegeben hat. Sie unterhält sich in ihrem halbschlafartigen Zustand mit ihrer verstorbenen Mutter, mit ihren verstorbenen Tanten.
Ich kann das langsame Sterben kaum mehr aushalten, die Bettpfannen, die Gerüche, die Geräusche, das Delirium. Mein Vater kann es. Mein Bruder auch. Oliver besucht Mama oft in dieser Zeit, sitzt bei ihr, weint und lässt seinen Gefühlen freien Lauf. Ich schaffe das nicht, ich verdränge, versuche zu funktionieren, wie immer in diesem ganzen verdammten Jahr, das muss ich ja auch. Denke ich.
In diesen Tagen aber lerne ich von meinem Bruder.
Am 22. Dezember ruft mich seine Hausmutter an und erzählt, dass Oliver ganz dringend die Mama sehen will. Also bringt sie ihn zu ihr. »Oh Mama!« Er weint und weint. Meine Mutter öffnet die Augen, erkennt ihn und sagt deutlich: »Tschüs, Oliver.«
Eigentlich will ich genau das nicht: mich bewusst verabschieden. Aber als ich das von Mama und Oliver höre, weiß ich, dass Oliver es richtig macht. Schnell setze ich mich am 23. Dezember ins Auto und fahre zu ihr. Sie liegt nur noch da, atmet kaum noch, sieht nicht mehr aus wie meine Mutter. Ich sitze einfach bei ihr – und nach zwei Stunden hebt sie auf einmal die Hand und winkt und sagt mit geschlossenen Augen: »Claudio, Claudio.«
Ich fahre zurück zu meiner Frau und meinen Kindern, um Weihnachten zu feiern.
An Heiligabend ruft mich mein Vater an: »Die Mama ist in meinen Armen gestorben.«
Keine Zeit für Trauer. Wir müssen uns um meinen Vater kümmern, um unsere Kinder, um meinen Bruder. Oliver ist unsere größte Sorge, wie geht er mit dem Tod unserer Mutter um? Er räumt ihren Badezimmerschrank leer und sagt:
»Hört das Alte auf – fängt das Neue an.«
Ich organisiere die Beerdigung, informiere alle Nahestehenden und halte die Trauerrede, das hatte ich meiner Mutter versprochen. Oliver bleibt stark und tapfer, ruhig und gefasst.
Der wichtigste Wunsch meiner Mutter war: ein ordentlicher Leichenschmaus mit allen ihr nahestehenden Menschen.
Uns graut es davor. Mein Vater will niemanden sehen, will nicht reden, hat Angst, zusammenzubrechen. Uns geht es auch so.
Aber es wird ein schöner Nachmittag mit vielen Freunden und Verwandten, die wir lange nicht gesehen haben, es wird von früher erzählt und geweint und gelacht. Nur die Hauptperson fehlt.
Danach
Am nächsten Tag schon fahren wir zurück nach Mainz. Es muss weitergehen, Schule, Arbeit, ein neuer Alltag ohne Mutter und Oma organisiert werden. Zu wenig Zeit für Trauer.
Wann fange ich an, mich mit dem Jahr 2017 zu beschäftigen, mit dem Sterben meiner Mutter, mit ihrem Tod? Erst jetzt, als ich diesen Text schreibe – acht Monate später.
Habe ich genug getan? Haben wir es richtig gemacht? Ich weiß es nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass wir gemeinsam als Familie gekämpft haben. Nicht nur die Familie, auch die Nachbarn haben mitgekämpft, die Hospiz-Helfer, die Krankenschwestern, die Pfleger, die Psychoonkologin Frau Tiefensee, der Chefarzt Professor Rehfeld. Wir haben den Kampf zwar verloren, aber wir sind uns alle sehr nah gekommen in diesem Jahr. Auch wenn meine Mutter leiden musste, hatte sie doch immer Kämpfer an ihrer Seite. Und wir hatten noch viele schöne Momente.
Die schwierigste Zeit hatte mein Vater in den drei Monaten vor ihrem Tod. Meine Mutter zuhause zu pflegen, bis sie stirbt – ich habe ihn gefragt, ob das eine falsche Entscheidung war. Er sagt: »Ich würde es sofort wieder so machen!«
Meine Mutter hat sich immer um alle und alles gekümmert. Dann haben wir uns ein Jahr lang um sie gekümmert. Und jetzt sind die Aufgaben des Kümmerns neu verteilt.
Mein Vater erholt sich langsam von den körperlichen Strapazen. Innerhalb eines Jahres musste er so viel Neues lernen. Wie er die Kraft und Geduld für die tagtägliche Rund-um-die-Uhr-Betreuung seiner Frau aufbringen konnte? »Durch 54 Jahre andauernde Liebe«, sagt er.
Er trauert, weint viel, erzählt uns und allen, die er kennt und trifft, immer und immer wieder die Krankengeschichte und wie seine Frau in seinen Armen starb. Seine Art der Verarbeitung. Im Alltag kommt er gut zurecht – 2017 hat er gelernt, was er für ein Leben allein braucht. »Sein und tun« ist jetzt seine philosophische Devise. Er trifft sich wieder mit seinen Nachbarn, seinen besten Freunden, er geht mit ihnen in Konzerte und Restaurants. Im Frühjahr 2018 hat er seine erste Reise allein gewagt. Zu uns, nach Mainz. Er hat die Gartenhütte neu gestrichen und im Haus gewerkelt, er hat sich allein um die Kinder gekümmert, mit ihnen gespielt, eine neue und innige Beziehung zur Enkelin aufgebaut, die vorher eher an der Oma hing. Er ist ein bisschen glücklich und ein bisschen stolz.
Die größte Überraschung aber ist die neue Beziehung zwischen meinem Vater und meinem Bruder. Oliver trauert auf seine Weise. Er malt Bilder von der Beerdigung, Bilder vom Grab, Bilder vom Himmel. Und mein Vater ist seine neue Bezugsperson; nur dass mein Vater ganz anders mit ihm umgeht als meine Mutter. Meinen Vater stört es nicht, wenn Oliver schreit oder krampft oder zappelt. Das merkt mein Bruder – und ist auf einmal deutlich ruhiger. Auch wenn wir zu Besuch sind, sitzt er gelassen am Tisch. Die Mutter, bei der er immer die Stimmung am Gesicht ablas, ist nicht mehr da. Er spricht mehr mit mir als früher, meine Frau umarmt er die ganze Zeit.
Als meine Mutter noch lebte, haben meine Eltern jedes Jahr eine Wanderfreizeit der Dorfgemeinschaft meines Bruders begleitet. 20 bis 30 geistig und körperlich behinderte Menschen auf Bergtouren unterstützen, das ist anstrengend – aber für meinen Vater ist es selbstverständlich, dass er auch ohne seine Frau bei der Wanderfreizeit 2018 dabei ist. Für seinen Sohn Oliver und dessen Freunde. Der 78-jährige Mann mit neuer Kraft. Alle zwei Wochen holt er meinen Bruder zu sich nach Hause, bekocht ihn, verwöhnt ihn und genießt es. Und Oliver genießt es auch. Abends legt er sich neben meinen Vater, auf die leere Seite des Ehebetts. »Oliver Mamabett schlafen, ok?«
Regelmäßig gehen sie gemeinsam auf den Friedhof, mein Vater setzt sich auf eine Bank und mein Bruder tanzt und gestikuliert wild vor dem Grab, führt intensive Selbstgespräche oder versucht, die Mutter im Grab anzusprechen. Abends steht er lange auf der Terrasse und schaut mit einem Fernglas in die Sterne. Auf der Suche nach der Mutter oder einfach nach einer Antwort auf seine Fragen. Dann kommt er wieder ins Haus, drückt meinem Vater einen Bleistift in die Hand und sagt: »Papa, mal bitte die Seele im Himmel.«
Dieser Text ist dem Buch „Wir sind für dich da! Krebs und Familie – 11 Reportagen“ entnommen. Text: Claudio Armbruster, Fotos: Privat
Wenn Sie selbst Angehöriger eines an Krebs erkrankten Menschen sind und Hilfe suchen, können Sie sich an den Verein Lebensmut wenden. Familien mit krebskranken Kindern erhalten von der Kinderkrebsstiftung Hilfe.